Lohnentwicklung in Europa (II): Von der Krise in die Krise

Im ersten Teil dieses Artikels – eine Zusammenfassung des Europäischen Tarifberichts des WSI 2010/2011 (Autor Thorsten Schulten, Experte für europäische Arbeits- und Tarifpolitik der Hans-Böckler-Stiftung) in den aktuellen WSI Mitteilungen 7/2011 – wurde ein Blick auf die ökonomischen Rahmenbedingungen fǘr die Lohnpolitik in Europa geworfen – wie hat sich die Lage am Arbeitsmarkt, die Konjuktur, wie die Inflation, wie die Arbeitsproduktivität entwickelt? All diese Faktoren beeinflussen wesentlich die (gewerkschaftliche) Lohnpolitik. Im zweiten Teil wollen wir nun näher analysieren, wie sich die Löhne in Europa während und „nach“ der Krise entwickelt haben. Ob es z.B. gelungen ist den Verteilungsspielraum zu nutzen. Ob Kaufkraft erhalten, oder gar erhöht wurde. Und welchen Einfluss die restriktiven Vorgaben der EU aber auch des IWF auf die Lohnentwicklung in den europäischen „Krisenstaaten“ und „Resteuropa“ haben.

Entwicklung der Tarif-/Kollektivvertragslöhne 2009 und 2010

Werfen wir erst einmal einen Blick auf die Kollektivvertragslöhne: Während die nominalen – nicht um die Inflationsrate bereinigten – Kollektivvertragslöhne in der Euro-Zone im Krisenjahr 2009 noch zwischen 2,6 und 2,9 % stiegen – in diesem Jahr wurden vielfach KV-Abschlüsse aus den Vorkrisenjahren wirksam – schlug sich die Krise im Jahr 2010 auf die Tarifvertragslöhne nieder. Im Jahr 2010 sind daher Kollektivvertrags- bzw. Tarifvertragslöhne in der Eurozone durchschnittlich um nur noch 1,7 % gestiegen (BRD: 1,8 %, Finnland: 2,6 %, Belgien: 0,7 %, Österreich: 1,6 %).

Kollektivverträge: Reallöhne stagnieren

Wie haben sich KV-/Tarif-Löhne und -Gehälter nun „real“ – also in Kaufkraft ausgedrückt – entwickelt? Schließlich bringen Tariflohn- bzw. KV-Lohnzuwächse ja nur dann „real“ was, wenn Kaufkraft erhalten und noch besser Kaufkraft gesteigert wird. Anders ausgedrückt: ein vermeintlich hoher „nomineller“ Lohnabschluss von + 6 % bringt „real“ Kaufkraftverluste, wenn die Inflation bei 8 % liegt. Der/die ArbeitnehmerIn kann sich also weniger leisten, als das Jahr zuvor. Liegt die Inflation allerdings bei 0,5 %, dann ist selbst ein vermeintlich bescheidener „nomineller“ KV-Abschluss von 1,6 % deutlich Kaufkraft stärkend. Der/die ArbeitnehmerIn kann sich „real“ mehr leisten, kann mehr an Gütern kaufen, als das Jahr zuvor.

Während die realen Tariflohnzuwächse 2009 noch kräftig stiegen, was sich nicht zuletzt positiv auf die gesamtgesellschaftliche Nachfrage und die Konsumquote auswirkte und so die Wucht der Krise abminderte – in der Euro-Zone belief sich der Reallohnzuwachs auf 2,3 %, war für das Jahr 2010 so gut wie kein Kaufkraftzuwachs mehr zu verzeichnen: In der Euro-Zone belief sich der Reallohnzuwachs gerade einmal auf + 0,1 % – also stagnierte. Leicht höhere tarifliche Reallohnzuwächse erzielte Finnland. Deutschland, auch Portugal. Reallohnverluste – wenn auch sehr leichte – setzte es mit – 0,1 % in Österreich und mit – 1,6 % schon deutlich stärker in Belgien.

Betrachtet man die mittelfristige reale Tariflohnentwicklung – also die Kaufkraftentwicklung über die letzten 10 Jahre hinweg – so fällt eine deutliche Kluft zwischen den skandinavischen Ländern und Rest-Europa auf. Während sich etwa in Schweden und Finnland die Tariflöhne von 2000 bis 2010 „real“ um 17,1 % bzw. 23,4 % erhöhten, fielen Deutschland bzw. Österreich mit Kaufkraftzuwächsen von 5,7 % bzw. 6,4 % schon deutlich zurück und lagen damit knapp über bzw. unter dem Euro-Zonen-Schnitt von lediglich 6,3 %.

Entwicklung der Effektivlöhne


Im Unterschied zu den Tarif-/KV-Löhnen – die auf einer kollektivvertraglichen Vereinbarung beruhen – handelt es sich bei den Effektivlöhnen um die tatsächlich ausgezahlten Löhne: schließlich gibt es ja z.B. etliche Branchen wo Über-KV bezahlt wird, aber auch Bereiche, die von Tarif- bzw. Kollektivverträgen nicht erfasst sind. Der Deckungsgrad ist in den europäischen Staaten höchst unterschiedlich: werden in Österreich z.B. über 90 % der ArbeitnehmerInnen von Kollektivverträgen erfasst, sind das in den baltischen Ländern weniger als 20 %. Gleichzeitig sind die Effektivlöhne natürlich auch vom Ausmaß der geleisteten Arbeitszeit abhängig – ob also Teilzeit gearbeitet wird, ob Kurzarbeit vorliegt, ob Überstunden geleistet werden. Die tatsächlich geleisteten Effektivlöhne finden sich in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung in der Lohnquote wieder.

Wie haben sich nun die Effektivlöhne entwickelt?

Die – nicht inflationsbereinigte – nominalen Effektivlöhne sind 2008 in den EU-27 noch um 3,2 % gestiegen, 2009 allerdings schon nur noch um 1,6 %, 2010 um 2,1 %. Für 2011 werden 2,3 % prognostiziert. Auffallend:

  • Gesunken sind die nominalen Effektivlöhne 2010 in Griechenland um – 3,5 % und Irland um – 1,9 %.
  • Regelrecht eingebrochen sind sie in den baltischen Staaten. Hier setzte es massive Lohnverluste – im öffentlichen Dienst in Lettland im Rahmen der EU- und IWF-Auflagen um bis zur Hälfte des Einkommens (siehe TAZ-Artikel): in Lettland brachen so die Nominallöhne 2009 insgesamt um – 12,2 %, 2010 zusätzlich um – 6,5 % ein, in Litauen 2009 um – 11,1 %, 2010 noch einmal um – 1,3 % ein.

Stagnierend stellen sich die realen – also die um die Inflationsrate bereinigten – Effektivlöhne dar. 2008 gab es bereits Reallohnverluste in der EU von -0,5 %. 2009 legten die Reallöhne um 0,6 % zu, um 2010 zu stagnieren. In 13 von 27 EU-Staaten kam es in diesem Jahr sogar zu Reallohnverlusten. Für 2011 werden Reallohnverluste von – 0,8 % erwartet.

  • Von den „alten“ EU-Staaten sind die Griechen am meisten betroffen: die Kaufkraftverluste der GriechInnen belaufen sich 2010 auf – 8,2 %, 2011 noch einmal auf – 3,4 %. Wie angesichts dieses massiven Konsumeinbruchs – der nicht nur Armut massiv befördert, steht doch deutlich weniger Geld für den Einkauf von Lebensmittel, für Wohnen, Heizen etc. zur Verfügung – der Weg aus der Krise geschafft werden soll, bleibt ein Rätsel. Reallohnverluste setzte es 2010 auch für Österreich, wenn auch deutlich geringere – nämlich – 0,1 %. Für 2011 ein Minus von 0,3 % an Kaufkraftverlust prognostiziert.
  • Massive Reallohnverluste mit „Verelendungspotential“ setzte es einmal mehr in den baltischen Staaten, in Rumänien und Ungarn: 2009 brachen die Reallöhne in Lettland wie in Litauen um über – 15 % ein, 2010 in Lettland noch einmal um – 5,2 %, in Litauen um – 2,5 %. Lettland werden für 2011 weitere Reallohnverluste von – 1,9 % prognostiziert. Starke Kaufkraftverluste mussten auch RumänInnen (2009: – 12,2 %, 2010: – 4,7 %, 2011: – 4,5 %) und UngarInnen (2009: – 6,2 %, 2010: -4,9 %, 2011: – 1,4 %) hinnehmen.

Verteilungsbilanz? Negativ.

Während 2009 die Verteilungsbilanz für die ArbeitnehmerInnen mit + 2,9 % (Inflation: 1 %, Arbeitsproduktivität: – 2,3 %, Nominallohnzuwachs: 1,6 %) noch positiv ausfiel (auch in Österreich entwickelte sich die Lohnquote in diesem Jahr im Verhältnis zu der Gewinnquote positiv, insbesondere weil kurzfristig im Krisenjahr 2009 sowohl Gewinn- als auch Vermögenseinkommen einbrachen), war dieselbe 2010 mit – 2,2 % schon wieder im Minusbereich und wird mit – 2,2 % auch im Jahr 2011 als strikt negativ prognostiziert. Wie schon die Jahre bzw. Jahrzehnte vor dem „ausreissenden“ Krisenjahr 2009 bleibt die Lohnentwicklung wieder deutlich und stetig hinter Produktivität und Inflation zurück:

„Nachdem krisenbedingt die Lohnentwicklung im Jahr 2009 kurzfristig über den (damals negativen) Verteilungsspielraum hinausschoss, ist sie bereits 2010 wieder auf einen restriktiven Kurs zurückgekehrt, der ein erneutes Absinken der Lohnquote und eine weitere Umverteilung zugunsten der Kapitaleinkommen nach sich zieht.“

Fällt der negative Verteilungsbilanzsaldo in Österreich etwa mit -1,1 % 2010 und erwarteten – 1,9 % 2011 noch unterdurchschnittlich aus, kann auch von einem „Aufholeffekt“ in den osteuropäischen Ländern nicht gesprochen werden. Im Gegenteil:

  • der negative Verteilungssaldo liegt in den baltischen Ländern im Jahr 2010 entweder knapp unter (- 9,9 % Lettland, – 9,3 ‚% Litauen) oder sogar über der 10-%-Marke (Estland: – 11,3 %). Negativ war der Verteilungssaldo in Lettland mit – 9,9 % bzw. – 6,3 % in Litauen bereits 2009.
  • Von den neuen EU-Mitgliedsländern in Osteuropa wiesen 2009 zwar Bulgarien (+ 9,9 %), die Slowakei (+ 6,4 %), Slowenien (+ 7,1 %) noch überdurchschnittlich positive Verteilungsbilanzsaldi auf die sich 2010 allerdings ebenso wie in Resteuropa in die Minuszone rutschen – teilweise durchaus kräftig wie in der Slowakei mit – 3,5 % .

In den „alten“ EU-Ländern lagen

  • 2009 – abgesehen von Irland, Spanien und Schweden – alle Länder am (Frankreich) oder über (z.B. Österreich: + 4,2 %, Deutschland: + 4,7 %) dem positiven EU-Schnitt. Mit 2010 und 2011 befanden bzw. befinden sich auch alle „alten“ EU-Mitgliedsstaaten im roten Bereich, wird der verteilungspolitische Spielraum nicht ansatzweise ausgereizt.
  • Überdurchschnittlich negative Verteilungsbilanzsaldi schrieben 2010 die Griechenland mit – 5,8 %, Irland mit -3,5 %, Spanien mit – 3,6 %, Portugal mit – 2,8 % aber auch weniger krisengeschüttelte Staaten wie Schweden (- 3,6 %), Luxemburg (- 3,1 %), Dänemark (- 3,7 %) und Finnland (- 3,2 %).

Ausblick: Lohnentwicklung in Europa bleibt schwach

Stagnierende Reallöhne 2010, ein prognostizierter deutlicher Reallohnrückgang 2011. Löhne und Gehälter stehen in Europa massiv unter Druck:

„Besonders betroffen … sind die sogenannten PIGS-Staaten (Portugal, Irland, Griechenland und Spanien), die derzeit im Zentrum der europapolitischen Debatte stehen und von EU-Seite als Hauptschuldige der aktuellen „Euro-Krise“ ausgemacht werden. Eine ähnliche Entwicklung findet sich aber auch nach wie vor in zahlreichen osteuropäischen Staaten. Unter massivem Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) und der EU sind all diese Staaten dazu übergegangen, die Löhne im öffentlichen Sektor drastisch zu kürzen und damit zugleich das Signal für eine restriktive Lohnentwicklung in der Privatwirtschaft vorzugeben.“

In Ländern, in denen der Export wieder angesprungen ist, fällt die Lohnentwicklung zwar etwas stärker aus, allerdings bleibt auch hier der Verteilungsspielraum bei weitem nicht ausgeschöpft, ist die Verteilungsbilanz negativ. Die Lohnentwicklung in stark exportorientierten Ländern wie der BRD ist zusätzlich nicht auf eine expansive Lohnpolitik zurückzuführen, sondern auf die noch schwächere Lohnentwicklung in den anderen Ländern.

Schulten kommt jedenfalls zu Schluss, dass von der Lohnentwicklung kaum positive Impulse ausgehen,

„… um die strukturellen ökonomischen Probleme in Europa zu überwinden und ein nachhaltige Wachstumsstrategie einzuleiten. In den Krisenländern führt der anhaltende Reallohnverlust im Gegenteil dazu, dass die gesamtwirtschaftliche Nachfrage immer weiter zurückgeht und sich die Krise weiter zuspitzt.“

Gleichzeitig ist die Lohnentwicklung in exportorientierten, Leistungsbilanzüberschussländern zu schwach, um …

„… damit einen Beitrag zu leisten die Ungleichgewichte in Europa abzubauen. Seit der Einführung der Europäischen Währungsunion hat die unterschiedliche Entwicklung der Lohnstückkosten wesentlich dazu beigetragen, dass sich die preisliche Wettbewerbsfähigkeit einiger weniger Staaten immer weiter verbesserte, während sie in den meisten anderen Staaten immer schlechter wurde. Allen voran hat Deutschland mit Hilfe seiner lohnpolitischen Sonderrolle sein exportgetriebenes Wachstumsmodell immer weiter ausbauen können.“

Und was für Deutschland gilt, gilt ähnlich auch für Österreich, geringer für Finnland. Während die BRD ihre Wettbewerbsfähigkeit auf Basis der Lohnstückkosten seit 1999 um 18 % verbessern konnte, verbesserte sich Österreich um 7, 6 %, Finnland um 2 %. Verschlechtert hat sich im gleichen Zeitraum die Position Frankreichs (- 1,2 %), der Niederlanden (- 4,1 %), Italiens (- 6,9 %) und der „Krisenstaaten“ Irland (- 7,3 %), Spanien (- 7,4 %), Portugal (- 9,1 %) und Griechenland (- 13,1 %).

Während allerdings der „deutsche“ Weg im Zuge der Krise von führenden EU-PolitikerInnen auch einmal als nationales Lohndumping und „Bagger-my-Neighbour-Politik“ kritisiert wurde, ist die restriktive Lohnpolitik Deutschlands inzwischen – zweifelhaftes – Vorbild für Europa geworden. Im Rahmen des „Euro-Plus-Pakts“ wird etwa von den EU-Staaten eine am deutschen Vorbild orientierte restriktive Lohnpolitik zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit gefordert.

„Die Verallgemeinerung des deutschen Entwicklungsweges wird jedoch endgültig dazu führen, dass europaweit eine negative Lohnsenkungsspirale in Gang gesetzt wird, in deren Folge sich die strukturellen Probleme in Europa weiter verschärfen werden.“

Eine „reine Verteidigung der nationalen Lohnpolitik“ greife allerdings auch zu kurz, so Schulten. So hätten die europäischen Gewerkschaften bereits Ansätze für eine Koordinierung ihrer Lohnpolitiken als Alternative zu herrschenden EU-Kurs entwickelt. „Aus heutiger Sicht“ ginge es dabei „im Kern“ um zwei Punkte:

  • die Verhinderung von weiteren Lohnkürzungen in den Krisenländern
  • und eine produktivitätsorientierte Reallohnpolitik um die binnenwirtschaftliche Stagnation zu überwinden

Zum anderen, schließt Schulten, stünden die Exportländer – darunter Deutschland, aber auch Österreich – vor der Aufgabe

„ … durch eine deutlich expansivere Lohnentwicklung die Fehlentwicklungen zumindest ein Stück weit zu korrigieren und ihre Verantwortung für die wirtschaftliche Dynamik in ganz Europa wahrzunehmen.“

Teil 1: Lohnentwicklung in Europa (I): Wirtschaftliche Rahmenbedingungen der Lohnpolitik

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