Das Spektakel des Kapitalismus

Die Diskussion, ab wann man „reich“ ist, ist lähmend und lenkt von den grundsätzlichen Dingen ab. Uns geht es nicht um das Brot, sondern um die Bäckerei und darum, das Spektakel zu beenden.

Produktionsmittel

Blickt man heute in Betriebe, ist von Demokratie nur wenig zu bemerken. Betriebe werden autoritärer geführt, die Betriebshierarchie ist eindeutig, Widerspruch wird nur selten geduldet. Der Ursprung dieser Undemokratie liegt im Privateigentum an Produktionsmitteln. Marx bezeichnete Arbeiter:innen als „doppelt freie Lohnarbeiter“ und verweist damit auf den Doppelcharakter der bürgerlichen Freiheit: „frei“, die Arbeitskraft zu verkaufen, und „frei“ von Eigentum an Produktionsmitteln – und damit wieder gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und unfrei zu werden.

Wie entstand nun das Eigentum an Produktionsmitteln? Das Verlagssystem war der Beginn dieser Entwicklung und eine Form der dezentralen Organisation von Produktion. Ein Verleger stellte Heimarbeiter:innen Rohstoffe und Kredite für die Produktion zur Verfügung, die die Waren in Heimarbeit anfertigten und einen Lohn erhielten. Die Heimarbeiter:innen waren die Eigentümer:innen ihrer Arbeitsgeräte (Webstuhl, Spinnrad etc.). Sie verkauften das Produkt ihrer Arbeit an den Verleger. Der Verleger kümmerte sich dann um den zentralen Absatz der fertigen Produkte, was zu einer Abhängigkeit der Heimarbeiter:innen vom Verleger führte. Später folgten die Manufakturen, die Vorläufer moderner Fabriken. Die Produktionsmittel – Werkzeuge, Maschinen, Gebäude und Rohstoffe – befanden sich im ausschließlichen Eigentum des Manufakturisten (Unternehmers). Die Arbeiter:innen besaßen nur noch ihre Arbeitskraft, die sie als Lohnarbeiter:innen gegen Entgelt zur Verfügung stellten.

Diese Entwicklung nannte Marx die „ursprüngliche Akkumulation“, die „nichts anderes als der historische Scheidungsprozess von Produzent und Produktionsmittel“ war. (Karl Marx, MEW Band 23, S. 742)

Blutgesetze

Gefördert wurde diese Entwicklung durch die massenhafte gewaltsame Enteignung der Bäuer:innen von Grund und Boden, durch die Auflösung feudaler Gefolgschaft. Die Manufakturen konnten die große Anzahl an Menschen nicht aufnehmen – Bettelei, Raub und „Vagabundentum“ waren an der Tagesordnung. Dagegen reagierte die Gesetzgebung mit sogenannten „Blutgesetzen“; sie sollten die Menschen zur Arbeit unter kapitalistischen Bedingungen zwingen und die kapitalistische Arbeitsdisziplin durchsetzen. Die Strafen reichten von Auspeitschung, Brandmarkung bis hin zur Hinrichtung. Unter Heinrich VIII. wurden über 70.000 „Vagabunden“ hingerichtet. Die von Grund und Boden gewaltsam Verjagten wurden durch Terrorgesetze in eine der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, gebrandmarkt und gefoltert. Ohne Produktionsmittel waren Arbeiter:innen gezwungen, das Einzige zu verkaufen, das sie besaßen – ihre Arbeitskraft. Indem eine raubende, eigentumsbesitzende und eine beraubte, eigentumslose Klasse entstanden, wurde Geld somit zum Kommandomittel über die menschliche Arbeit.

Kapitalismus

Grundlage des Kapitalismus ist, dass die Güter Waren sind. Sie werden zu ihrem Tauschwert am Markt verkauft. Der Warencharakter betrifft aber nicht nur Gegenstände. Im Kapitalismus ist die Arbeit selbst Ware. Der Großteil der Menschen besitzt nichts (also keine Produktionsmittel und nicht den ganzen Firlefanz, den man zu Hause und in der Garage stehen hat) außer ihrer Arbeitskraft. Da alles, was die Menschen brauchen oder wollen, nur als Ware über den Markt zu beziehen ist, brauchen sie für ihr (Über-)Leben Tauschmittel – also Geld. Das Einzige, das sie am Markt zum Tausch anbieten können, ist ihre Arbeitskraft.

Unternehmer:innen kaufen Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit für ihren Tauschwert. In dieser Zeit können sie nach ihrem Gutdünken über die Arbeitskraft verfügen. Für Kapitalist:innen hat die Arbeit einen Gebrauchswert, denn sie lassen in dieser Arbeitszeit Güter produzieren, die dann ihnen gehören und nicht den Produzent:innen, den Arbeiter:innen.

Entfremdung

Die Ausbeutung besteht also nicht darin, dass die Kapitalist:innen zu „wenig“ für die Arbeitskraft bezahlen, denn sie kaufen sie zu ihrem Tauschwert auf dem Arbeitsmarkt, sondern in den Eigentums- und Verfügungsverhältnissen an Produktionsmitteln.

Und genau dort, wo sich die Menschen als Gattungswesen manifestieren, bei ihrer Auseinandersetzung und Gestaltung ihrer Umwelt, bei ihrer Arbeit, sind sie nicht bei sich, sie gehören sich nicht. Die Produkte ihrer Auseinandersetzung mit der Welt gehören anderen. Sie sind sich, ihrer Tätigkeit, ihren Produkten entfremdet.

In der entwickelten Warengesellschaft verkehren die Menschen untereinander, als ob sie Objekte wären. Sie sind Träger:innen von Arbeitskraft, Besitzer:innen von Waren, und die Dinge selbst scheinen belebt zu sein. Und genau das vermittelt auch die Werbung: Nur ein bestimmtes Produkt haucht den Konsument:innen erst das Leben ein, ohne das sie kraft- und leblos erscheinen.

Keine Ware wird produziert, um ein persönliches Bedürfnis zu befriedigen; jede Ware wird produziert, um Gewinn, Profit und Rendite für die Kapitaleigner:innen abzuwerfen.

Das Spektakel

Um diesen Irrsinn auszuhalten, entsteht die „Gesellschaft des Spektakels“ (nach Guy Debord). Es entsteht eine Scheinwelt aus Werbung, Klischees und Propaganda.

Die Gesellschaft ist hypnotisiert vom Anblick eines „wahren, echten“ Lebens, während gleichzeitig in ihrem Alltag lebendige, menschliche Regungen abnehmen. „Ihre vulgarisierten Pseudofeste, Parodien des Dialogs und der Gabe, regen zwar zu einer wirtschaftlichen Mehrausgabe an, bringen aber nur die stets durch das Versprechen einer neuen Enttäuschung kompensierte Enttäuschung wieder.“ (Guy Debord, Die Gesellschaft des Spektakels)

Weil man sich als unfreie Lohnarbeiter:in bewusst ist, sich niemals seine Bedürfnisse erfüllen zu können, werden in der Gesellschaft des Spektakels Film-, Fernseh-, Pop-, Polit- und Influencer-Stars zu Held:innen. Sie dienen als Modell für all das, was man niemals erreichen kann. Die Stars sind die „spektakuläre Darstellung eines lebendigen Menschen“.

Das Individuum, das in der Arbeit enteignet wurde, wird im Konsum des Spektakels weiter enteignet – von seiner eigenen Lebenszeit, seinem Urteilsvermögen und seinen wirklichen Wünschen.

Jedes Bedürfnis, jede Beziehung, jede Sehnsucht wird durch den Filter der Ware wahrgenommen und kann nur als Ware befriedigt werden. Die Realität kollabiert vollständig in die Realität des Marktes.

Reich ohne Produktionsmittel?

Die Diskussion, ab wann Reichtum beginnt, ist müßig. Wir sollten uns nicht davon ablenken lassen, ob schon ein Eigentumshaus, ein Grundstück, ein Gehalt von 10.000 Euro zu viel sind oder nicht.

Das führt am Wesentlichsten vorbei, denn: Arbeitskraft wird zu ihrem Wert am Arbeitsmarkt eingekauft. Wenn das Gehalt 10.000 Euro beträgt, dann ist der Wert offensichtlich 10.000 Euro.

Vorsicht: Hier ist nicht die Rede vom „Gebrauchswert“, also vom Nutzen, sondern vom „Tauschwert“. Kapitalist:innen interessiert der Gebrauchswert nicht, sie interessiert der Tauschwert, und der ist ein Vehikel zur Realisierung ihrer Geschäfte – nicht mehr und nicht weniger.

Denn das Problem sind nicht Villen, teure Autos – das Problem ist, dass einige Wenige Produktionsmittel besitzen und damit Lohnabhängige gezwungen sind, ihre Arbeitskraft zu verkaufen und somit „unfrei“ werden. Sobald die Produktionsmittel in gemeinschaftlicher Hand sind und die Gesellschaft demokratisch darüber entscheidet, wie und was produziert werden soll, ist es so, als hätte es dieses Problem niemals gegeben.

Was ist jetzt mit der Millionärssteuer?

Was heißt das nun für eine Millionärs- oder Erbschaftssteuer? Sie nicht einführen, den Kapitalismus überwinden und auf die Revolution warten? Nein, natürlich nicht.

Millionärssteuer, Erbschaftssteuer, Besteuerung von Stiftungen etc. sollen kein Instrument sein, weil es nicht sein darf, dass manche Villen besitzen. Die Begrenzung von Reichtum soll dem einzigen Zweck dienen, Geld für die Gesellschaft zu lukrieren. Geld soll für Sozialmaßnahmen zur Verfügung stehen.

Wir sollten uns aber von der Vorstellung verabschieden, dass Millionärssteuer & Co. mehr Gerechtigkeit schaffen. Der Besitz an Produktionsmitteln und der Kauf von Arbeitskraft sind per se Unrecht – historisch und aktuell. Und wir sollten uns von der Vorstellung verabschieden, dass sich der Kapitalismus dahingehend reformieren lässt, der Gesellschaft zu dienen. Das wurde Jahrhunderte versucht, und alle – ausnahmslos alle – Versuche sind grandios gescheitert und haben das Problem mitunter nur verschlimmert. Natürlich hat es Reformen gegeben, und die Gewerkschaften waren an vorderster Front, diese zu erkämpfen. Aber dadurch hat sich der Kapitalismus nicht zum Guten gewendet. Es wirkt fast so, als sei die sozialdemokratische Bürokratie des 20. Jahrhunderts das Stiefkind des Kapitalismus: der Rotzlöffel, der am Essenstisch freche Widerworte von sich gibt und doch immer wieder zu Weihnachten eingeladen wird.

Kapitalismus wird immer Unrecht bedeuten. Kapitalismus wird für die meisten Menschen immer bedeuten, nicht bei sich zu sein, in ihrer Tätigkeit, ihren Produkten entfremdet zu sein. Kapitalismus wird immer bedeuten, sich nicht seine Sehnsüchte und Träume erfüllen zu können und nur Objekte, Träger:innen von Arbeitskraft, Besitzer:innen von Waren zu sein und sich das „echte“ Leben in einem Spektakel vorgaukeln zu lassen.

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Stefan Steindl

Stefan ist politischer Sekretär der AUGE Wien und engagiert sich für eine linke, unabhängige und vielfältige Gewerkschaftsarbeit. Er setzt sich für Demokratie im Betrieb, Gleichberechtigung und eine gerechte, ökologische Zukunft ein – in Wien und darüber hinaus.

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