BEIGEWUM: „EU-Wirtschaftsregierung – eine stille neoliberale Revolution“

In einem Beitrag im neuen Kurswechsel, der Zeitschrift des BEIGEWUM, analysieren die AutorInnen und EU-ExpertInnen Christa Schlager und Elisabeth Klatzer die Vorschläge der EU-Kommission zu einer EU-Wirtschaftsregierung (Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts, automatisierter Sanktionsmechanismus, mittel- und unmittelbarer Eingriff in nationalstaatliche Lohn- und Wirtschaftspolitik etc.) die gemeinsam mit dem kürzlich im EU-Rat beschlossenen „Pakt für den Euro“ unmittelbar vor dem Beschluss stehen. Hier Auszüge aus dem Text:

Wie auf EU-Ebene Ursache und Wirkung verwechselt werden:

Während die Finanz- und Wirtschafskrise deutlich zutage brachte, dass nicht nur die Deregulierung der Finanzmärkte, sondern auch die Wirtschaftspolitik der letzten Jahrzehnte mit wachsenden Leistungsbilanzungleichgewichten, rapide zunehmenden Ungleichheiten in der Verteilung von Einkommen und Vermögen, anhaltender Wachstumsschwäche durch eine im Rahmen des Stabilitäts- und Wachstumspaktes (SWP) konzertierte öffentliche Konsolidierungspolitik und schädlichem Steuerwettbewerb, begleitet von Deregulierung und Privatisierung, wirtschaftspolitisch der falsche Weg und kontraproduktiv ist, zeigt sich gegenwärtig eine erstaunliche Dynamik : Die öffentliche Debatte ist dominiert von Geschichten über Staaten die – vornehmlich selbstverschuldet – nahe am Staatsbankrott sind, dramatischen Rettungsaktionen, Refinanzierungsschwierigkeiten, Gefahren des Auseinanderbrechens des Euros und Disziplinierung durch Finanzmärkte (Zinsdruck). In einer derart dramatischen Situation müssen die »unverantwortlichen EU-Mitgliedsstaaten« (MS) hart hergenommen werden : »Die EU schlägt zurück« und »the EU gets tough« (Europäische Kommission o. J., 1). Und : wer erlaubt sich angesichts einer derartigen Dramatik überhaupt den Luxus, Kritik zu üben ?

Wie in der EU tatsächliche Krisenursachen ignoriert werde:

Zunächst ist zu betonen, dass die Vorschläge nicht die Krisenursachen bekämpfen (vgl. auch IMK 2009, Watt 2010). Die unmittelbaren Krisenursachen liegen in der Deregulierung der Finanzmärkte, Leistungsbilanzungleichgewichten zwischen den Staaten und in einer sich weltweit polarisierenden Vermögensverteilung (IMK 2009). Lediglich zu ausgewählten, vorwiegend monetären Aspekten makroökonomischer Ungleichgewichte wird seitens der Europäischen Kommission ein Vorschlag gemacht, die anderen Themen werden ignoriert. Mehr noch : Die fisskalischen Reformen werden als unausweichlich in Hinblick auf das Agieren der Finanzmärkte dargestellt, die ansonsten die Staaten in den Ruin treiben würden. Bei der Reform der Finanzmärkte, einer Finanztransaktionsteuer oder Maßnahmen zur Eindämmung des Steuerwettlaufs nach unten gibt sich die EU-Kommission hingegen sehr zurückhaltend.
Der Zusammenhang zwischen der Finanzkrise, dem damit verbundenen Ansteigen der Schuldenquote und den daraus folgenden Problemen der Nationalstaaten wird nicht hergestellt.

Wer für die Schuldenkrise tatsächlich verantwortlich ist:

Die Schuldenkrise ist eindeutig als Last der Übernahme von Bankenrettungspaketenund Krisenbekämpfungsmaßnahmen zu identifizieren. Dies wird versucht zu verschleiern. Mehr noch : Es wird versucht, das ideologische Feld zu wechseln und die Staaten als unverbesserliche Schuldenmacher darzustellen, die ihre »Hausaufgaben« nicht gemacht und über ihre Verhätnisse gelebt hätten und endlich an die Kandare genommen gehören. Griechenland wurde als Paradebeispiel dargestellt, obwohl es eine Ausnahme unter den Eurozone Staaten darstellt. Die griechischen Daten wurden geschönt.

Andere Staaten, wie Irland oder Spanien hatten vor der Finanzkrise Budgetüberschüsse und niedrige Schuldenquoten, was sie nicht davor bewahrt hat, jetzt unter erheblichen Druck der Finanzmärkte zu kommen. Eine Beteiligung der Verursacher an den Krisenkosten durch höhere Vermögens- oder vermögensbezogene Steuern, oder Übernahme von Anleiherisiken steht nicht ernsthaft auf der europäischen Agenda.

Warum die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakt definitiv der falsche Weg ist:

Die Verschärfung des SWP führt zu einer einseitigen Austeritätspolitik in Europa, speziell in der Eurozone, was die Wachstumsaussichten dämpft (Truger et al. 2010, 17f). Quantitative Defizit- und Staatsschulden-Ziele sind der falsche Ansatz, wenn diese ernsthaft umgesetzt werden, wird dieser einseitige Fokus auf Schuldenreduktion schädlich für die wirtschaftliche Entwicklung der EU sein und eine »lost decade« steht bevor (Watt 2010, 7).

Über die neoliberale Agenda der EU-Kommission – ein Frontalangriff auf Sozialstaat, Gewerkschaften und ArbeitnehmerInnen:

Auch mit dem ersten Jahreswachstumsbericht hat die EK im Jänner 2011 deutlich gezeigt, was unter dem Schlagwort »verstärkte wirtschafspolitische Koordinierung« zu erwarten ist : Die EK schlägt darin Schwerpunkte im Bereich Konsolidierung, Arbeitsmarktreformen und sogenannte »wachstumsfördernde« Maßnahmen vor und definiert 10 prioritäre Bereiche. In diesen Bereichen soll der Handlungsdruck auf die MS erhöht werden. Erschreckend ist die ungeschminkte ideologische Einseitigkeit der Maßnahmen.

Vorschläge des Wachstumsberichtes sind unter anderem strikte nachhaltige Lohndisziplin für Leistungsbilanzdefzitländer (u. a. durch Abschaffung von Indexierungsklauseln), Flexibilisierung der Arbeitszeitregelungen, Erhöhung des Pensionsantrittsalters, Aufbau privater Pensionsvorsorge, de facto Anregungen zur Kürzung von Arbeitslosenleistungen (Überprüfung der Unterstützung von Arbeitslosen, Befristung, Anreize zur Arbeitsaufnahme …), Abbau von »übermäigem« Schutz von Beschäftigten mit unbefristeten Verträgen, Ausweitung der Öffnungszeiten im Handel (»unverhältnismäßige Beschränkungen derÖffnungszeiten …«), Abschaffung von Steuerregelungen, die den grenzüberschreitenden Handel oder Investitionen beeinträtigen und klare Präferenz für – aus Verteilungssicht problematische – indirekte Steuern.

Warum „mehr Europa“ zusehends eine gefährliche Drohung wird:

Das Besorgniserregende dabei ist besonders, dass der jährliche Wachstumsbericht die Basis für weitere Empfehlungen der EK (Europäischen Kommission, Anm.) an MS über Strukturreformen und fiskalische Konsolidierung bildet und damit auch die Basis für nachfolgende Überwachungsverfahren und mögliche Sanktionen.

Die EK verfolgt hier eine ganz eindeutig einseitig neoliberale, unternehmerfreundliche Agenda, die selbst die ohnehin zarten Ansätze von mehr Ausgewogenheit in den Beschlüssen des Europäischen Rates zu Europa 2020 und in den Integrierten Leitlinien der Wirtschaftspolitik (Grundzüge der Wirtschaftspolitik und Beschäftigungspolitische Leitlinien) ignoriert. Besonders hervorzuheben ist, dass die EK damit Eingriffsmöglichkeiten in Bereiche nationalstaatlicher Zuständigkeit bekommt und offenbar beabsichtigt, über die »wirtschaftspolitische Koordinierung« aus neoliberaler Perspektive unerwünschte wirtschaftspolitische Maßnahmen auf MS Ebene zu sanktionieren, selbst wenn sie ökonomisch wichtig und sinnvoll sind, wie beispielsweise ausgeprägte automatische Stabilisatoren.

Trübe Aussichten für ein solidarische, ökologische und demokratische europäische Zukunft und wie die EU den EU-Frust befördert:

Die aktuellen Vorschläge zur wirtschaftspolitischen Steuerung werden nicht, wie manche hoffen, mehr Europa bringen. Im Gegenteil, sie entfernen die Bevölkerung von der Union. Die Aussicht auf eine »europäische Folterkammer«, auf Sanktionen und Strafen, auf permanenten Sparkurs und eine ohnmächtige Politik sind keine attraktiven politischen Optionen, die Politikverdrossenheit und Ablehnung der EU wird weiter steigen.

Es ist absehbar, dass die Maßnahmen die Wachstumsprobleme innerhalb der EU verstärken und sich auf unabsehbare Zeit als hinderlich fűr ausgewogene wirtschaftliche Entwicklung darstellen. Zudem werden Staat und sozialstaatliche Leistungen ausgehöhlt und unterminiert und Ungleichheiten verschärft. Es wird eine zentrale machtpolitische wie auch symbolische Frage sein, ob die Europäische Union die Finanzmärkte unter Kontrolle bringt, oder umgekehrt. Das Primat der Politik ist Voraussetzung dafür, um Wirtschaftspolitik zu gestalten. Die Notwendigkeit eines Paradigmenwechsels ist nach der Krise erstaunlich schnell wieder in den Hintergrund gerückt. Das Unbehagen mit der Wirtschaftspolitik ist geblieben. Die Möglichkeit einer sozialen und ökologischen Union rückt wieder in weite Ferne.

Linktipp: BEIGEWUM, Kurswechselbeitrag von Christa Schlager und Elisabeth Klatzer, „Europäische Wirtschaftsregierung – eine stille neoliberale Revolution“

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