Betriebliche Demokratie: Kennen Sie „Semco“?

Also: Kennen Sie „Semco“? Ja? Nein?
Ich gebe zu, ich habe auch erst kürzlich – Dank „soziales Netzwerk“ facebook von der Existenz Semcos erfahren. Eigentlich eine Schande für jemanden, der sich mit Fragen betrieblicher Demokratie und  auseinandersetzt.

Doch dazu später.

Semco ist ein Unternehmen, ja ein Konzern, ein Industriekonzern, der Maschinen produziert und dazugehörende Dienstleistungen anbietet. Gut, das macht Semco nicht besonders. Das macht Semco auch nicht unbedingt sympathisch. Semco ist ein brasilianischer Konzern. Gut. Auch das soll es geben. Das macht Semco auch noch nicht einzigartig.

Nun stelle sich mann/frau allerdings vor: da gibt es ein Unternehmen, einen Konzern mit knapp 3.000 MitarbeiterInnen. Also ein Großunternehmen, kein Klein- oder Mittelbetrieb. Diese MitarbeiterInnen wählen ihre Vorgesetzten und bestimmen ihre eigenen Arbeitszeiten und Einkommen.

Es gibt keine Geschäftspläne, keine Personalabteilung, fast keine Hierarchie. Gewinne werden per Abstimmung aufgeteilt, Gehälter und sämtliche Geschäftsbücher für alle einsehbar, e-mails sind dagegen strikt privat. Wie viel Geld die MitarbeiterInnen für Geschäftsreisen oder ihre Computer ausgeben, ist ihnen selbst überlassen. Empfangspersonal das nur den „Grüßaugust“ macht, oder SekretärInnen, die nur zum Kopieren und Kaffekochen da sind, sucht frau/mann in diesem Unternehmen vergebens, weil in diesen Berufen Prinzipien wie Selbstentfaltung und -verwirklichung zu kurz kommen – das muss in diesem Unternehmen schon jede/r selbst machen. Gearbeitet wird im Team: das entscheidet, ob wer eingestellt wird, oder nicht, Meetings sind freiwillig. Regelmäßig formal bewertet wird in diesem Unternehmen lediglich das Management – und zwar von allen anderen. Gleichzeitig hat dieses Unternehmen seinen Umsatz seit der umfassenden Demokratisierung verfünzigfachen, seinen MitarbeiterInnenstand mehr als verdreißigfachen können. Die Fluktuationsrate bei den MitarbeiterInnen liegt unter einem Prozent, was auf eine ausgesprochen hohe Zufriedenheit mit den Arbeitsbedingungen und der Unternehmenskultur schließen läßt.

Was da für so mache/n wie ein radikaldemokratischer Traum, für so manchen anderen eher wie ein anarchistischer Alptraum klingt, gibt es tatsächlich. Das ist besagtes Unternehmen Semco. Das macht nun Semco doch recht einzigartig. Und ganz sympathisch. Das kann dann gerade für alternativ orientierte GewerkschafterInnen Semco dann doch spannend machen.

MitarbeiterInnen wie Erwachsene behandeln“

Als Ricardo Semler als 22-Jähriger Anfang der 80er Jahre das bislang patriarchal geführte Familienunternehmen von seinem Vater übernahm, krempelte er dieses grundlegend und umfassend demokratisch um ( Berichte über das Modell Semco u.a. auf sein und erfolgdurchglück – von den vielfach esoterisch anmutenden und tatsächlich esoterischen Beiträgen sollte frau/mann sich nicht abschrecken lassen, sowie auf consulteria.de und teamsuccess – zwei Unternehmensberatungswebsites).

Semlers Rezept war dabei so einfach wie einleuchtend: Behandle deine MitarbeiterInnen wie Erwachsene, dann verhalten sie sich auch so. Je mehr Freiheiten ihnen gegeben werden, desto produktiver, zufriedener und innovativer werden sie. Ein Unternehmen besteht nicht aus Arbeitskräften, sondern aus erwachsenen gleichberechtigten Menschen. Jede/r hat das Recht sich frei zu entfalten und eine gesunde Balance zwischen Beruf und Privatleben zu finden. Und aktuell zur Burn-out Diskussion passend: Druck und Stress machen nicht produktiv, sonder kaputt, worunter der Mensch und das Unternehmen leide.

Verrückter Kontrollwahn

Für Semler ist der Kontrollwahn in den Unternehmen schlicht „verrückt“. Seine MitarbeiterInnen seien erwachsene Menschen, die Kinder erziehen und politische VertreterInnen wählen würden. Entsprechend würden sie wohl am besten wissen, was sie brauchen würden. Semler:

„Es ist völlig verrückt, diese Idee, dass die Menschen immer noch so fixiert darauf sind, wie etwas gemacht wird. Bei uns sagt keiner: ‚Du bist fünf Minuten zu spät‘ oder ‚warum geht dieser Fabrikarbeiter schon wieder aufs Klo?‘ (…) Wenn Du dich bei Semco im Büro umsiehst, sind da immer jede Menge leere Plätze. Die Frage ist: Wo sind diese Leute? Ich hab nicht die leiseste Idee und es interessiert mich auch nicht.

Es interessiert mich in dem Sinne nicht, dass ich nicht sicherstellen möchte, dass meine Mitarbeiter zur Arbeit kommen und der Firma eine bestimmte Anzahl an Stunden pro Tag geben. Wer brauche eine bestimmte Anzahl Stunden pro Tag? Wir brauchen Leute, die ein bestimmtes Ergebnis abliefern. Mit vier Stunden, acht Stunden oder zwölf Stunden im Büro – sonntags kommen und Montags zu Hause bleiben. Es ist irrelevant für mich.“

Eigenregie im Team

Herzstück von Semco sind die Teams.

„Die Menschen arbeiten in Gruppen, die jeweils ein Produkt oder ein Zwischenprodukt selbständig fertig stellen. Wie sie das machen, in welcher Zeit und mit welchem Geld, da ist ihre Sache. Wer zwischendurch schlafen will, geht einfach in den Firmengarten und legt sich für ein paar Stunden in die Hängematte – wer müde ist, macht ja ehrnur Fehler.“ (siehe Bericht in erfolgdurchglück)

Hierarchische Managementstrukturen sind bis SEMCO weitestgehend abgeschafft. Die Beschäftigten arbeiten in Gruppen, entscheiden selbstbestimmt über Entlohnung, Arbeitszeiten, Neueinstellungen, Produktionsweise etc.

Das Unternehmen räumt seinen Arbeitern echte Mitbestimmungsrechte ein, überlässt ihnen 23 Prozent des Gewinns nach Steuern zur Verteilung nach eigenem Gusto und gewährt allen Mitarbeitern freimütig Einblick in die Bücher, damit sie stets über die Lage ihres Unternehmens im Bild sind. Und damit auch jeder mit den Finanzzahlen etwas anfangen kann, bietet Semco entsprechende Kurse an.

Entscheidungsprozesse werden demokratisch und transparent gefällt. Produktionsquoten und Gewinnverteilung regeln die Arbeitnehmer unter sich. Wenn die Mitarbeiter der Meinung sind, ein Vorgesetzter tauge nichts, kann sich dieser freiwillig nach einer für ihn besser geeigneten Aufgabe umsehen. Hart, aber fair.“  (Bericht auf business-backstage-report)

Eine Studie von CNN hat zum Ergebnis geführt, dass die MitarbeiterInnen bei Semco eine sehr viel gesündere Balance zwischen Privatleben und Beruf haben, sich mehr Zeit für Beziehung, Kinder und Hobbys nehmen, gleichzeitig auch ungewöhnlich hohen Einsatz und bemerkenswerte Leistungen im Beruf zeigen. Wegen der Freiheiten ist Semler überzeugt.

Demokratie rechnet sich auch ökonomisch

Seit Semlers Übernahme und Demokratisierung ist der Umsatz innerhalb von 20 Jahren von 4 Mio Dollar im Jahr 1982 auf 212 Mio. Dollar gestiegen. U.a. wurden die Management-Ebenen von 12 auf 3 (!) reduziert. Die Zahl der Beschäftigten ist im selben Zeitraum von 90 auf 3.000 gestiegen.

Streiks – notwendiger „Stachel im Fleisch“ um aufzurütteln

Dass es dem Unternehmer Semler mit Demokratie im Betrieb und ArbeitnehmerInnenrechten scheinbar tatsächlich durchaus ernst ist zeigt sich auch in seiner Stellung zu Streiks: ziviler Ungehorsam sei einfach notwendig, um zu erkennen wo Probleme lägen, Streiks deswegen Okay und nicht zu sanktionieren. Streiks seien so etwas wie der Stachel im Fleisch, der aufrüttle. Für einen „Betriebsinhaber“ eine doch sehr erstaunliche Positionierung.

Demokratische Unternehmen – es gibt sie und sie funktionieren

Semco ist ein Beispiel dafür, dass demokratisch organisierte Betriebe – entgegen immer wieder vorgebrachten bzw. aufgestellten Behauptungen – durchaus funktionieren. Was bei Semco passiert widerspricht tatsächlich so ziemlich allem, woran Manager – egal auf welchen Ebenen – und Eigentümer in der Regel glauben. Was für Personalchefs und hierarchiegläubige Geschäftsführer und Vorstandsvorsitzende wie ein Alptraum klingen mag, ist in Wirklichkeit eine Erfolgsgeschichte. Interessanterweise findet frau/mann – zumindest im Netz – auch kaum Kritik von links an Semco: auch auf kapitalismuskritischen, linken Web-Seiten wird Semco als Beispiel für einen funktionierenden, demokratischen Betrieb angeführt ohne kritische Zwischentöne. Obwohl Semco eigentlich nicht dem „reinen“ linken, utopisch-sozialistischen, anarchistischen, syndikalistischen, linkssozialistischen etc. Ideal eines „radikaldemokratisch“ organisierten Betriebs in ArbeiterInnenselbstverwaltung entspricht. Die Demokratisierung ging schließlich – zumindest legen die Berichte den Schluss nahe – nicht „von unten“, sondern „von oben“ aus. Semler ist nach wie vor Mehrheitseigentümer bei Semco.

Betriebliche Demokratie – keine Frage der Größe

Interessant ist das Beispiel Semco  für alternative, linke GewerkschafterInnen allemal: einerseits weil es ohnehin nicht den „einen“, „wahren“ Weg hin zu Wirtschaftsdemokratie gibt, und – selbst annähernd – demokratisch organisierte Betriebe bzw. Unternehmen keineswegs so dicht gesät sind, dass nicht jedes einzelne eine genauere Betrachtung wert ist. Andererseits, weil Semco zeigt, dass Wirtschaftsdemokratie nicht nur möglich ist, sondern sich auch rechnet. Für die Beschäftigten, für die Betriebe, für die Gesellschaft. Semco zeigt auch, dass betriebliche Demokratie – wie auch bei der noch größeren Produktionsgenossenschaft Mondragon – nicht an eine „kritische“ Größe – sprich an „Kleinheit“ und „Überschaubarkeit“ – gebunden ist. Auch große, moderne Industrieunternehmen mit allen komplizierten Produktions-, Organisations-, Verwaltungs-, Vermarktungs- etc. -abläufen können demokratisch organisiert sein, und das durchaus erfolgreich bzw. erfolgreicher als traditionell hierarchisch geführte Unternehmen.

Das hat die Vergangenheit zwar bereits eindrucksvoll bewiesen – frau/mann denke an die großflächigen Kollektivierungen und in Arbeiterselbstverwaltung geführten Industriebetriebe in Katalonien im Zuge der sozialen Revolution in Spanien 1936/37 – ist allerdings weitestgehend in Vergessenheit geraten oder wurden aus dem kollektiven Gedächtnis verdrängt. Zeit diese Erfahrungen – und aktuelle – wieder ins kollektive, vor allem gewerkschaftliche, Gedächtnis zu rufen.

Von Ricardo Semmler sind mehrere Bücher erschienen darunter: „The Seven-Day Weekend: A Better Way to Work in the 21st Century“ und „Das Semco System: Management ohne Manager“.

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