Der “kanadische Streik” und der Achtstundentag in Spanien
19. März 2018 von adminalternative
Die Geschichte des gesetzlichen Achtstundentages in Spanien, ist eine Geschichte des Anarchismus in Spanien. Dieser Tage endete vor 99 Jahren ein 44-tägiger Generalstreik in Katalonien. Was im Februar 1919 als Solidaritätsstreik für eine Handvoll Entlassener begann, endete in einer Revolte, die zu einem der größten Erfolge der spanischen ArbeiterInnenbewegung werden sollte. Die anschließende Eskalation durch Arbeitgeber, mit tausenden ermordeten ArbeiterInnen, ebnete den Weg zum Putsch durch Franco und stürzte das Land in den Bürgerkrieg.
Spanien und der Anarchismus
Nach dem Königin Isabella II. in der Septemberrevolution von 1868 vom Throne flüchten musste, gingen die folgenden Jahre als die Sexenio Revolucionario, die revolutionären sechs Jahre in die Geschichte ein. In diesen Jahren wurde die erste Sektion der Internationalen in Spanien gegründet und die ArbeiterInnenbewegung kam mit den Ideen der Anarchisten Michail Bakunin und Pierre-Joseph Proudhons Gewerkschafts-Sozialismus (aus dem später der Syndikalismus entstehen sollte) in Berührung. Die revolutionären Jahre sollten aber nur von kurzer Dauer sein, zu groß die Widersprüche unter den RevolutionärInnen. Wollten die einen eine parlamentarische Monarchie, wollten vor allem die ArbeiterInnen und BäuerInnen eine soziale Revolution. 1874 wurde das Parlament von General Manuel Pavía besetzt und es begann eine erneute autoritäre Herrschaft unter König Martínez-Campos Alfons XII.. Die Internationale Sektion in Spanien wurde für illegal erklärt.
Die „iberischen Dörfer“
Trotz alledem: Die Idee des Anarchosyndikalismus – die unmittelbare Übernahme der Produktionsmittel und politischer Verantwortung in gewerkschaftlicher Selbstorganisation – ging wie ein Lauffeuer durch Spanien. Der Anarchismus konnte in Spanien besonders leicht Fuß fassen, waren doch im Mittelalter und in der Neuzeit immer wieder ganze Gebiete über Jahrzehnte frei von herrschaftlicher Macht. Die Menschen organisierten sich in selbstverwaltete Kollektive (Piotr Kropotkin beschrieb diese “iberischen Dörfer”, die aufgrund der Isolation von den Machtzentren eine politische Autonomie erlangten, in seinem Werk “Gegenseitige Hilfe”).
Die ersten Gehversuche des Syndikalismus
Die Spanische Föderation, wie die Sektion der Internationalen in Spanien später hieß, wuchs schnell, von 2.000 im Jahre 1870 auf 40.000 1872. Aufgrund mehrerer Landreformen zuungunsten der Bauern und Bäuerinnen kamen die meisten Mitglieder aus den ländlichen Gebieten von Andalusien und Katalonien. Nach dem Ausschluss von Michail Bakunin und James Guillaume aus der Internationalen 1872 gründete die Spanische Föderation mit Sektionen anderer Länder die Antiautoritäre Internationale.
1881 wurde die anarchosyndikalistische La Federación de Trabajadores de la Región Española (FTRE), die “Föderation der Arbeiter der spanischen Region” als Nachfolgeverband der Spanischen Föderation gegründet. Diese Föderation sollte nur sieben Jahre Bestand haben. Der Anlass waren die Aktionen der Mano Negra, der “Schwarzen Hand”, die durch Anschläge auf Politiker und Industrielle („Propaganda der Tat“) die FTRE in eine schwere Krise stürzte und schlussendlich für ihre Auflösung sorgte. Die Folgejahre waren geprägt durch Anschläge und Attentate.
Die „tragische Woche“ und die Gründung der CNT
AnarchosyndikalistInnen (wie die Mehrzahl der AnarchistInnen) lehnten Individualterror stets ab. Im Dezember 1901 kam es zu einer Streikwelle in Barcelona, die von der Regierung blutig niedergeschlagen wurde. Die Bilanz: 100 Tote und 300 Verwundete. Die La Federación de Sociedades de Resistencia de la Región Española (FSORE), die “Föderation der Widerstandsgesellschaften der spanischen Region”, eine anarchosyndikalistische Gewerkschaftsföderation, wurde als Nachfolge der FTRE gegründet. Bereits 1907 wurde sie von der Solidaridad Obrera, der „Arbeiter Solidarität“ abgelöst.
Im August 1909 lösten 40.000 Einberufungsbefehle der Regierung in die spanische Kolonialarmee antikolonialistische und antimilitaristische Proteste aus, die in einen Generalstreik mündeten. Die Regierung lies 175 ArbeiterInnen erschießen, um die Kontrolle über Katalonien wieder herzustellen („tragische Woche“).
1910 wurde schlussendlich die legendäre anarchosyndikalistische Confederación Nacional del Trabajo (CNT) gegründet. Bereits 1918 zählte sie über 700.000 und 1936, zu Beginn der sozialen Revolution in Spanien, über zwei Millionen Mitglieder.
“Huelga de La Canadiense”, der kanadische Streik
Der Anarchosyndikalismus, mit seiner Idee durch Streiks seine Ziele zu erreichen, vor allem durch Generalstreiks sich die Produktionsmitteln anzueignen und so auch die politische Macht zu gewinnen, hatte also bereits 1919 eine jahrzehntelange Tradition in Spanien. Das Aufbegehren gegen staatliche Herrschaft, das Zusammenschließen in selbstverwaltete Kollektive und Kooperativen, war in manchen Landstrichen Spaniens seit Jahrhunderten gelebte Praxis. Eine weitere Besonderheit ist die immanente Spontanität solcher Revolten.
Es darf daher nicht verwundern, wie schnell in Spanien regelmäßig einfache Proteste in Generalstreiks eskalierten. Die Ereignisse, die zum Generalstreik von 1919 führten, begannen im Energieunternehmen Riegos y fuerzas del Ebro, das zum Konzern Barcelona Traction, Light and Power Company, limited gehörte, der umgangssprachlich La Canadiense, “die Kanadische” genannt wurde, aufgrund des Hauptaktionärs, die Canadian Bank of Commerce of Toronto (daher: kanadischer Streik).
Der Beginn: Ein kleiner Streik
Am 5. Februar 1919 protestierten einige ArbeiterInnen aus der Buchhaltung des Unternehmens Riegos y fuerzas del Ebro gegen Lohnkürzungen, worauf sie entlassen wurden. Die Buchhaltungsabteilung trat daraufhin geschlossen in einen Solidaritätsstreik, worauf sie ebenfalls entlassen wurden. Am 8. Februar weitete sich der Streik auf das gesamte Unternehmen aus. Ab diesem Zeitpunkt wandelte sich der defensive Streik zu einem offensiven Streik. Es ging nicht mehr nur um die Wiedereinstellung der KollegInnen, es wurden eigenständige Forderungen formuliert. Wenige Tage später begann ein Streik im Energieunternehmen Energía Eléctrica de Cataluña, die Forderungen: Wiedereinstellung aller Entlassenen, Lohnerhöhungen und das Recht auf gewerkschaftliche Organisation im Betrieb. Am 17. Februar streikte bereits die gesamte katalanische Textilbranche, die Forderungen wurden abermals ausgeweitet: Wiedereinstellung aller Entlassenen, Einführung des Achtstundentages, halbtags frei an Samstagen, Anerkennung der Gewerkschaft, Abschaffung der Akkordarbeit, volle Auszahlung des Wochenlohns bei Ausfällen nach Unfällen und Verbot der Kinderarbeit.
Die Revolte
Der Generalstreik nahm seinen Lauf. Am 21. Februar traten die ArbeiterInnen aller Stromproduzenten Kataloniens in Streik, am 27. Februar schlossen sich die ArbeiterInnen der Gas- und Wasserversorger dem Streik an. Zu dem Zeitpunkt wurden mehr als 80 Prozent der katalonischen Industrie bestreikt.
Am 9. März berief die Regierung per Erlass alle Arbeiter in den Militärdienst ein, um so den Streik zu brechen. Die Antwort der CNT–Mediengewerkschaft war la censura roja, die “rote Zensur”. Die Gewerkschaft untersagte den Verlegern, entgegen den Interessen der ArbeiterInnen zu berichten. Die Mehrheit der ArbeiterInnen kam der Einberufung nicht nach, worauf es zu Massenverhaftungen kam, mehrere tausende ArbeiterInnen wurden interniert.
Der Erfolg
Um eine revolutionäre Dynamik zu verhindern, verhängte die Regierung spanienweit den Ausnahmezustand. Sie wollte damit ein Übergreifen des Streiks außerhalb Kataloniens verhindern. Die Regierung war allerdings derart in Bedrängnis (der Ministerpräsident verkündete seinen Rücktritt, sobald die Ordnung wiederhergestellt sei), dass sie das Gespräch mit dem Streikkomitee suchte und zu weitreichenden Zugeständnissen bereit war.
Das Ergebnis der Verhandlungen, die zwischen dem 15. und 17. März stattfanden:
Anerkennung der Gewerkschaften, Immunität für das Streikkomitee und die Gewerkschafts- sekretäre, Freilassung aller Gefangenen, Wiedereinstellung aller Streikenden ohne Repressalien, allgemeine Lohnerhöhungen, die Auszahlung des halben Monatslohns für den Streikmonat und die Einführung des Achtstundentags per Gesetz in ganz Spanien.
Der Weg zum Bürgerkrieg
Diese Schmach wollten die Unternehmen nicht auf sich sitzen lassen, sie gründeten den spanischen Unternehmerverband Federación Patronal Española. Am 1. Dezember wurden 150.000 ArbeiterInnen ausgesperrt und aufgefordert ihre CNT-Mitgliedschaft zurückzulegen. Die Aussperrung musste erfolglos abgebrochen werden.
„Pistolerismo“
In den 20er Jahren wurden tausende Gewerkschafts- aktivistInnen von Todes-
schwadronen der Unternehmens- verbände ermordet – sogenannte Pistoleros („Pistolerismo“ als Strategie der Arbeitgeber). Die Gegenreaktion war die Gründung von Untergrundgruppen, die sich gegen diese Angriffe zur Wehr setzten. Die wohl bekannteste derartige Gruppe war die Los Solidarios, „die Solidarischen“ – Buenaventura Durruti war ein Mitglied der Los Solidarios. Sie organisierte sich ab 1927 als Kampfgruppe der Federación Anarquista Ibérica (FAI), der militante Arm der CNT.
Verschwörung des Adels und Militärs
Die Eskalation der Unternehmerverbände im Verbund mit dem Adel und der Kirche ging weiter. Es bildeten sich ab 1931 Verschwörungsgruppen des Adels und des Militärs, die einen Putsch gegen die junge Republik vorbereiteten. In propagandistischen, vor allem klerikaler Medien wurde die Republik als “jüdisch-freimaurerisch-bolschewistische” Verschwörung dargestellt, Linke seien „weder wirklich spanisch noch überhaupt menschlich“, die „Auslöschung aller Linken“ sei daher eine „patriotische Pflicht“, die ArbeiterInnenbewegung wurde mit der mittelalterlichen muslimischen Eroberung verglichen, wodurch eine “zweite Reconquista” notwendig sei. (Zitate vgl Preston, Paul, Inquisition and Extermination in Twentieth-Century Spain, London 2012)
Ein erster Höhepunkt der Eskalationsstrategie war der Putsch von General José Sanjurjo, der aber durch einen Generalstreik erfolglos blieb. Diesem dilettantischen ersten Versuch folgte ein besser vorbereiteter Putsch von Francisco Franco, der im spanischen Bürgerkrieg endete, in der Diktatur und der Zerschlagung aller sozialen Kräfte in Spanien.
Revolution
Zugleich aber entstand in Spanien während des Bürgerkriegs ein einzigartiges Experiment – das der sozialen Revolution. Produktionsmittel wurden angeeignet, Betriebe selbstverwaltet, landwirtschaftliche Flächen wurden kollektiviert. In Katalonien standen mehr als 75 % der Betriebe unter der Führung eines demokratischen AbeiterInnenkomitees. In den kollektivierten Gebieten galt das Prinzip:
„Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.“
Quellen und weiterführende Literatur:
- Bernecker, Walther L.: Anarchismus und Bürgerkrieg
- Souchy, Augustin: Bei den Landarbeitern von Aragon
- Peiro, Santillan: Ökonomie und Revolution
- Loibl, Stefan: Kollektiv oder Kooperativ?
- Orwell, George: Mein Katalonien. Bericht über den Spanischen Bürgerkrieg
- Edelmayer, Friedrich (Hg.): Anarchismus in Spanien
- Gerlach / Souchy (Hg.): Die soziale Revolution in Spanien
- FAU Moers: Die spanische Revolution 1936
- Paz, Abel: Durruti. Leben und Tode des spanischen Anarchisten
- Medienwerkstatt Freiburg (Hg.): Die lange Hoffnung. Erinnerung an ein anderes Spanien
- Nelke: Der Spanische BürgerInnenkrieg (1936-1939)
- Lugschitz, Renee: Spanienkämpferinnen
- Souchy, Augustin: Nacht über Spanien