Kasse machen: Wie viele Sozialversicherungsträger braucht das Land?
31. Januar 2012 von adminalternative
An welchem Tag der Genesis war es eigentlich, dass Gott verfügte: „Es gebe 19 Krankenversicherungsträger und 17 Krankenfürsorge-Anstalten“? Eine Frage, die ÖsterreicherInnen üblicherweise nicht beschäftigt, sich aber hervorragend zu Polemik eignet. Nun fordern also auch die Grünen die Zusammenlegung der SV-Träger. Alles Schaumschlägerei? Ein Kommentar.
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Nur Falls es nicht klar ist: Sollte ein Gott oder eine Göttin die Welt geschaffen haben, hatte er oder sie jedenfalls dabei keine fixe Vorstellung von der Ausgestaltung des Sozialversicherungssystems.
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Dieses ist durch und durch von Menschen geschaffen und in seiner heutigen Ausprägung einzig historisch, in keinem Fall jedoch sachlich begründbar (außer im Sinne des Schönborn’schen „intellegent design“s, was aber an sich schon klarmacht, dass es Strukturkonservatismus geht und nicht um Gesundheit oder Gerechtigkeit). Nachdem sich in der Zeit zwischen 1856 und 1910 über 400 unterschiedliche regionale und berufsständige Kassen gebildet hatten, die oftmals weniger als 400 versicherte Mitglieder „betreuten“, lag es im System selbst begründet, dass hier kaum überlebensfähige Einheiten mit anderen fusionierten. Die heute existierenden Restbestände dieser berufsständigen und regionalen Organisationsstrukturen gelten als Wesensmerkmal des konservativen Korporatismus – quasi namensgebend für ein Konzeptmodell in der Sozialforschung (etwa nach Esping-Andersen). Das allein wäre ja schon Grund genug, sich davon zu verabschieden. Aber da gibt es noch eine ganze Reihe anderer Gründe:
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- Die Kassenstruktur regelt Finanzierungsflüsse und Machtressourcen. Ein wesentlicher Aspekt der ökonomischen Probleme vieler GKKs liegt darin, dass Menschen mit besonders hoher Erwerbssicherheit in eigene Kassen (BeamtInnen und Vertragsbedienstete in die VÖB) ausgelagert werden; aber auch, dass mehrfachversicherte Menschen Beiträge für die SVA der Gewerblichen Wirtschaft leisten, für deren Kosten dann aber die GKKs aufkommen müssen (weil kaum ein mehrfachversicherter Mensch freiwillig in der SVA einen Selbstbehalt leisten wird, wenn er/sie die selbe Leistung beim anderen Versicherungsträger – der GKK – ohne Selbstbehalt bekommt).
- Die Kassenstruktur schafft Mehrklassenmedizin. Es ist schon einmal so, dass Versicherungsträger unterschiedliche Leistungen anbieten, was sachlich nicht zu rechtfertigen ist. Dazu kommt noch, dass etwa die SVA ÄrztInnenhonorare bezahlt, die um ein Mehrfaches über jenen der GKKs liegen. Daraus resultieren Ungleichbehandlungen bei Wartezeiten und Betreuungsintensität. Den Gipfel schoss dann noch die letzte Übereinkunft zwischen ÄrztInnen und SVA ab, in der gesamtvertraglich eine Privilegierung der SVA-Versicherten gegenüber anderen Versicherten vereinbart wurde.
- Die Kassenstruktur schafft keine „persönliche Betreuung“ oder gar demokratische Legitimation.
- Die Kassenstruktur ist ein Vehikel der Länder gegen eine bundesweite Koordination von Krankenanstaltenplänen, Bedarfserhebungen und vergleichbare Kostenaufstellungen.
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Das gegenwärtige Kassensystem ist objektiv schlecht und nicht zu verteidigen. Stellt sich die Frage, was ein besseres Kassensystem können muss. Es muss jedenfalls…
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- allen Versicherten die gleiche Behandlung zu den gleichen Beitragssätzen garantieren;
- absurde Selbstbehalte abschaffen
- gegenwärtig in der Strukturkonservierung eingesetzte Mittel frei machen zum dringend notwendigen Ausbau in der Kinder- und Jugendheilkunde, der Psychotherapie, der Psychosomatik und der Palliativmedizin.
- eine Demokratisierung der Selbstverwaltung (etwa vergleich bundesdeutschen Versichertenwahlen) garantieren
- über Betreuungs- und Informationsstrukturen sicherstellen, dass alle Menschen tatsächlich jene Informationen und Behandlungen erhalten, die sie benötigen…
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…und auf diese Weise sicherstellen, dass die Träger nicht mehr als feindselige Erscheinungsform des Obrigkeitsstaates, sondern als „unsere“ Einrichtung zum Schutz vor willkürlichen Eingriffen begriffen werden kann
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Machen wir uns nichts vor: Keine einzige dieser Mindesterfordernisse erfüllt das gegenwärtige Trägersystem. Genaugenommen existiert es nur mehr aus zwei Gründen: Weil die Wirtschaftskammer keine Lust hat, mit den Proleten in der selben Versicherung zu sitzen und weil die Struktur der Träger eine Vielzahl von Funktionen für politische Parteien bereithält.
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Es ist Zeit, neue Strukturen zu erarbeiten, die den gegenwärtigen Realitäten gerecht werden können. Und dabei geht es um Inhalte und Ausgestaltungsformen und nicht um die Zahl der Träger. Eine Kasse pro System (also zB. GKKs für Gesundheit, die PVA für Pensionen und die AUVA für die Unfallversicherung) mit jeweiligen Landesorganisationen reichen völlig…
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Anmerkung: Dieses Kommentar soll eine Beitrag zu einer längst überfälligen Debatte rund um eine Reform unserer Sozialversicherungssysteme und einer transparenteren und nachvollziehbareren Finanzierung unseres Gesundheitssystems sein. Es ist daher EIN Beitrag zu einem Diskussionsprozess und spiegelt daher keineswegs zwingend die Position der AUGE/UG, geschweige denn der UG und ihrer einzelnen Säulen wieder. Wir halten es allerdings für wichtig, dass sich gerade Gewerkschaften – und auch alternative Gewerkschaftsgruppierung – an der Debatte über die Zukunft der Ausgestaltung unserer Sozialversicherungssysteme beteiligen und aktiv mitmischen. Und diese Diskussion kann und soll durchaus auch organisationsintern konträr geführt werden – um letztlich zu einem guten Resultat zu führen. Wir dürfen die Reform und den Umbau unsere sozialen Sicherungssysteme jedenfalls nicht den Parteien überlassen – egal ob diese rot, schwarz, grün oder blau sind – dafür sind sie uns nämlich zu wichtig. Die Sozialversicherungen.