Repressionswellen und Hexenjagd in der Türkei

akad_friedenDie bislang jüngste Repressionswelle des AKP-Regimes richtet sich gegen die UnterzeichnerInnen eines Aufrufes von „Akademikern für den Frieden“. Diese hatte die Kriegsführung der türkischen Sicherheitskräfte in den überwiegend von KurdInnen bewohnten Gebieten in der Südost-Türkei scharf kritisiert und Schritte zum Frieden gefordert. Auf diesen Aufruf reagierte der Staatschef Tayyip Recep Erdoğan unter anderem mit Verratsvorwürfen. Unmittelbar darauf folgten die Eröffnung von Ermittlungsverfahren unter Staatssicherheitsparagraphen, erste Festnahmen und auch Entlassungsverfahren. Das Ganze wird begleitet von öffentlichen Denunziationskampagnen, die LehrerInnengewerkschaft Eğitim-Sen als „Lynchkampagne“ charakterisiert.

Zunehmende autoritäre Verhärtung
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Eine sichtbare Verstärkung der autoritären Tendenzen der AKP-Regierung, die ideologisch politisch national-religiöse und neo-liberale Elemente gekennzeichnet ist, kann seit etwa 2011 beobachtet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte die national-religiöse und neoliberale AKP ihre Machtposition im Staatsapparat soweit gefestigt, dass sie nun die Machtinstrumente aggressiver nutzen konnte. Gleichzeitig nahm ihr Spielraum für konsensorientierte Politikelemente durch die allmählich nachlassende Wirtschaftsdynamik ab. Zusätzlich wurden die autoritären Tendenzen im Inneren durch die immer tiefere Verwicklung in den Krieg im benachbarten Syrien gestärkt. Hier setzte die AKP auf die Karte bewaffneter Gruppen der islamistischen Rechten. Ihre besondere Sympathie gilt, wie in anderen Staaten der Region, den Muslimbrüdern. Der Krieg verlief allerdings anders als die AKP-Regierung sich das gedacht hatte. Das Assad-Regime erwies sich als widerstandsfähiger als von den AKP-Strategen erwartet, und es entstanden autonome Gebiete unter Verwaltung der kurdischen Linken. Dies gab der kurdischen Linken in der Türkei Auftrieb. Das war das Letzte, was sich die AKP wünschte.
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Wahlkampf und Repression
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Das Wahljahr 2015 brachte einen deutlichen Schub in der Repression. Die Parlamentswahlen im Juni hatten nicht das von der AKP erwünschte Ergebnis: Die Partei gewann zwar 40,7% der Stimmen, hatte aber einen Stimmenrückgang um 3 Millionen zu verzeichnen und verfehlte ihr Minimalziel einer absoluten Mehrheit der Sitze. Dies war nicht zuletzt Folge des guten Abschneidens der HDP. Als erster Partei mit einer stark kurdisch geprägten WählerInnenbasis gelang ihr mit einem stark auf sozialen Themen ausgerichteten Wahlkampf breitere WählerInnenschichten anzusprechen und die 10% Hürde zu überspringen.
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Die AKP setzte rasch auf Neuwahlen, um das für sie unerfreuliche Ergebnis zu korrigieren. Dies war von eskalierender Gewalt begleitet. Zahlreiche Büros der HDP wurden verwüstet. Die AKP beendete den sogenannten „süreç“ – auf Deutsch einfach „Prozess“, womit erste Schritte in Richtung auf eine Friedenslösung gemeint sind. Der Konflikt mit der PKK lebte wieder auf. Während des Wahlkampfs waren manche kurdischen Städte wie unter einer Besatzung der türkischen Sicherheitskräfte. Gleichzeitig ging die Regierung scharf gegen oppositionelle Medien, speziell aus dem kurdischen Umfeld, vor. Zahlreiche kritische Internet-Portale wurden blockiert, JournalistInnen massiv eingeschüchtert. Sie setzte bei einer der größten Mediengruppen, die Koza İpek-Holding, die der Gülen-Gemeinschaft  (ein bisschen vergleichbar dem katholischen Opus Dei)– einem früheren Verbündeten, heute Gegner Erdoğans – einen Treuhänder ein und brachte sie damit unter Kuratel des Regierungslagers. Die EU hofierte zu dieser Zeit Erdoğan  in der Hoffnung, dieser möge den Strom syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in die EU-Länder für sie drosseln. EU-SpitzenpolitikerInnen, wie die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel, gaben sich in Istanbul und Ankara die Klinke in die Hand und machten der türkischen Regierung Avancen. Wenn weniger Flüchtlinge über das Meer kämen, gebe es EU-Gelder für in der Türkei lebende Flüchtlinge, Bewegung im EU-Beitrittsprozess und vielleicht auch Visumsfreiheit. Dies waren faktisch Interventionen in die Spätphase des türkischen Wahlkampfes.
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Weitere Eskalation nach den Wahlen
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Mit ihrem aggressiven, stark durch nationalistische Parolen geprägten Wahlkampf vermochte die AKP am 1. November ihren Stimmenanteil – etwas zu Lasten der HDP, massiv zu Lasten der ultranationalistischen MHP – auf gut 49% auszubauen. Die HDP nahm trotz allem erneut die 10%-Hürde. Die AKP erreichte zwar die absolute Mehrheit der Sitze, nicht aber für Verfassungsänderungen ausreichende Mehrheiten. Dies war und ist aber das erklärte Ziel der AKP. Erdoğan will sich zu einem exekutiven Präsidenten mit sehr weitreichenden Vollmachten küren lassen.  Außenpolitisch geriet die AKP zum Teil unter Druck. Russische Unterstützung stärkte das Assad-Regime.
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Erste tastende Schritte in Richtung auf eine Friedenslösung wurden international angebahnt – nicht zuletzt, um den sogenannten Islamischen Staat in Syrien (und dem Irak) einzudämmen. Gegen den IS begannen sich die westlichen Länder eindeutiger zu positionieren. Dem konnte sich auch die türkische Regierung nicht ganz entziehen. Unter dem Banner des Kampfes gegen den „Terrorismus“ konzentrierte sie sich allerdings auf die PKK und auch auf aufständische kurdische Jugendliche. Selbst die konservative, lange Zeit mit der AKP sympathisierende Frankfurter Allgemeine spricht von einem „Aufstand der Chancenlosen“ in den südost-türkischen Städten.
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In mehreren Städten in der Südost-Türkei wurden lang andauernde Ausgangssperren verhängt. Wohnviertel wurden beschossen. Die Zivilbevölkerung leidet massiv unter den Einsätzen der Spezialkräfte. Vielen blieb nur die Flucht.
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„Akademiker für den Frieden“
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Gegen diese Kriegsführung richtet sich eine Erklärung der „Akademiker für den Frieden“, die zunächst von 1.128 türkischen WissenschaftlerInnen aus 89 Universitäten unterzeichnet wurde. Sie hoben hervor, dass „das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, Freiheit und Sicherheit sowie insbesondere das Verbot von Folter und Misshandlung“, wie sie das internationale Recht, aber auch die türkische Verfassung garantiere, verletzt werde. Sie forderten ein Ende der Kriegshandlungen und die Einleitung eines Friedensprozesses unter Einschluss der „Forderungen der politischen Vertretung der kurdischen Bewegung“.
In einer Rede nach dem Anschlag in Istanbul am 12. Dezember griff der türkische Staatspräsident die UnterzeichnerInnen des Aufrufs scharf an. Er denunzierte sie als Verräter. „Du bist entweder auf Seite der Regierung oder du bist auf Seite der Terroristen“. Und weiter äußerte er: „Jene, die vom Staat profitieren, aber ihn verraten, sollten bestraft werden.“
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… und die Repressionskampagne der Regierung
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Danach wurden prompt die Justizorgane, aber auch ein Teil der Universitätsleitungen aktiv. Die Staatsanwaltschaft in Istanbul hat ein Ermittlungsverfahren gemäß dem berüchtigten Strafgesetzbuchparagraphen 301 und der Anti-Terror-Gesetzgebung gegen alle UnterzeichnerInnen eingeleitet. Diese beziehen sich auf „terroristische Propaganda“, Anstachelung zur Gewalt oder Beleidung der „Türkischen Republik“. Bei Verurteilungen drohen mehrjährige Gefängnisstrafen. In mehreren Städten wurden WissenschaftlerInnen festgenommen bzw. zu Verhören vorgeladen. Laut dem stark auf Menschenrechtsfragen spezialisierten türkischen Internetportal Bianet kam es in der ersten Woche nach Erdoğans Rede zu 33 – meist vorübergehenden – Festnahmen.
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Der Rat für Hochschulbildung (YÖK), ein autoritäres Erbe der Militärdiktatur der 1980er Jahre und nun fest in Händen der Regierungskader, drohte den UnterzeichnerInnen Maßnahmen an. Einige Universitäten, vor allem in den Provinzstädten, leiteten sofort Disziplinarverfahren mit dem Ziel der Entlassung ein. Laut Bianet wurden innerhalb einer Woche bereits 15 WissenschaftlerInnen aus dem Universitätsdienst entfernt.
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Die Repressionsmaßnahmen sind von einer Hetzkampagne begleitet. Die übermächtigen regierungsnahen Medien verbreiten allein die „offizielle“ Sichtweise. An einzelnen Universitäten wurden die Bürotüren von UnterzeichnerInnen markiert. Manche erhielten Morddrohungen. Selbst Figuren aus dem Mafia-Milieu drohten Gewalt an. Bereits der schmutzige Krieg der 1990er Jahre war durch eine Verfilzung von Sicherheitsapparat und Kriminellen gekennzeichnet. In der Türkei fürchten viele eine Rückkehr zu den 1990er Jahren mit den Zehntausenden von Toten in der Südost-Türkei.
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Türkische und Internationale Solidarisierungen
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In der Türkei haben die UnterzeichnerInnen eine breite Solidarität erfahren. Sie reicht von den beiden demokratischen im Parlament vertretenen Oppositionsparteien – CHP (Republikanische Volkspartei) und HDP (Demokratische Partei der Völker) – Gewerkschaften, beispielweise des öffentlichen Dienstes und der LehrerInnen, und auch zahlreiche gesellschaftliche Initiativen. Zu diesen zählen Studierendengruppen und -vertreterInnen, JournalistInnen, TheatermacherInnen, CineastInnen, KünstlerInnen und VerlegerInnen kamen Unterstützungserklärungen.
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Auch international hat der Aufruf ein großes Echo gefunden. Er wurde von zahlreichen ausländischen WissenschaftlerInnen, darunter Noam Chomsky, Judith Butler, Étienne Balibar, David Harvey und Immanuel Wallerstein unterzeichnet. WissenschaftlerInnen gaben in verschiedenen Ländern, darunter den USA/Großbritannien und Deutschland/Österreich, eigene Solidaritätserklärungen mit ihren türkischen KollegInnen ab.
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Die EU-Kommissionssprecherin, Maja Kocijančić, gab sich hingegen sehr vorsichtig und sagte nur, die EU werde aufmerksam verfolgen, was mit Personen geschehe, welche die Regierungspolitik im Hinblick auf den Friedensprozess mit den Kurden kritisierten. Später wurde die Diktion etwas deutlicher. Klartext redete der US-Botschafter in Ankara, John Bass. Er zeigte sich „besorgt über diesen Druck, der eine eisige Wirkung auf den legitimen politischen Diskurs in der türkischen Gesellschaft hat“. Die Äußerung von Bedenken über die Gewalt sei nicht gleichbedeutend mit der Unterstützung von Terrorismus.
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Die internationalen Unterstützungserklärungen sind für die türkischen WissenschaftlerInnen von großer Bedeutung.
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Joachim Becker, Hochschullehrer und Betriebsrat

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