WIFO-Monatsberichte 3/2011 (Teil 1): Mit dem Sozialstaat gegen die Krise

Ergebnisse die nicht überraschen. Ergebnisse die nun allerdings schwarz auf weiss vorliegen: der Sozialstaat, bzw. sozialpolitische Maßnahmen leisteten in der jüngsten Wirtschaftskrise einen wesentlichen Beitrag zur Stabilisierung.

Ja, es war ausgerechnet der den Neoliberalen so verhasste Sozialstaat, der entscheidend dazu beitrug, in Zeiten der Finanz- und Wirtschaftskrise die befürchteten dramatischen Auswirkungen auf BIP und Beschäftigung abzufedern. Das mussten – am Höhepunkt der Krise – dieselbigen auch zähneknirschend und kleinlaut zugeben. Eigentlich hätten sie sich glücklich schätzen müssen, dass die von ihnen so munter betriebene Zertrümmerung des Sozialstaates doch noch nicht gänzlich geglückt bzw. vollzogen war. Wer allerdings denken würde, die Erfahrungen aus der Krise hätten gewisse Lerneffekte ausgelöst irrt. Im Gegenteil: die Neoliberalen in EU-Kommission und EU-Rat blasen einmal mehr bzw. wieder einmal – nun unter dem Titel „EU-Wirtschaftsregierung“ oder „Umfassende Reaktion“ – zum Generalangriff auf den Sozialstaat. Und wir werden uns einmal mehr entschieden gegen diese Angriffe zur Wehr setzen müssen. Der Beitrag in den WIFO-Monatsberichten 3/2011 von Thomas Leoni, Markus Marterbauer und Lukas Tockner, liefert dabei ein gutes, ökonomisches Argumentarium für einen funktionsfähigen, gut ausgestatteten Sozialstaat.

Im Rahmen einer Studie des WIFO – in Zusammenarbeit mit anderen europäischen Wirtschaftsforschungsinstituten – für das Europäische Parlament wurde untersucht, inwieweit denn sozialstaatliche Maßnahmen einen Beitrag leisten, die Wirtschaft in Zeiten der Krise zu stabilisieren. In bereits erwähnten Monatsberichten erschien ein Artikel zur Studie, der einen ersten Überlick über Ergebnisse liefert. Und die sind doch recht eindeutig.

„Automatische Stabilisatoren“ wirken

Ab dem Frühjahr 2008 brach die Finanzkrise mit aller Wucht auch über die „Realwirtschaft“ herein: in der EU sank das BIP im Jahr 2009 real um 4,2 %, die Arbeitslosenzahl erhöhte sich um 7 Mio. Menschen auf 23 Mio, die Arbeitslosenquote stieg 2010 auf 9,6 %. Die im Sozialsystem eingebauten Stabilisierungsmechanismen trugen allerdings entscheidend dazu bei, sowohl die Dauer, als auch die Wirkung der Krise einzuschränken.

In der Krise gehen Beschäftigung (steigende Arbeitslosigkeit) und Einkommen (schwächere Lohnabschlüsse, mehr Teilzeitjobs etc.) zurück. Sinkt das Einkommen, sinkt die Nachfrage, was die Krise damit noch einmal verstärkt. Noch mehr Beschäftigte würden gekündigt, was den Druck auf die Einkommen noch mehr verstärken würde, wachsende Armut, die Krise würde sich weiter verschärfen. Diesen Entwicklunge wirken allerdings modernen Sozialstaaten üblicherweise eigene „automatischen Stabilisatoren“ entgegen. Die wichtigsten sind ausgabeseitig das Arbeitslosengeld, einnahmeseitig die progressive Wirkung von Einkommenssteuern. Sinkende Einkommen bedingen niedrigere Einkommenssteuern, weil EinkommensbezieherInnen nicht in höhere Progressionsstufen vordringen, was zwar zu geringeren Steuereinnahmen des Staates aus Löhnen und Gehältern führt, allerdings mehr verfügbares Einkommen den Haushalten belässt – abhängig davon, wie progressiv das Steuersystem ausgestaltet ist. Vor allem auch bei Haushalten mit hoher Konsumneigung aufgrund relativ niedriger Einkommen.

Umgekehrt verhält es sich bei den Transfers, den Staatsausgaben: diese Erhöhen sich – im Gegensatz zu Einkommenssteuern – natürlich im Falle steigender Arbeitslosigkeit, weil mehr Arbeitslosengeld gezahlt werden muss. Dadurch halten sich Einkommensverluste gesamtwirtschaftlich gesehen in Grenzen und bleiben Konsumausgaben – also gesamtgesellschaftliche Nachfrage – annähernd stabil. Der Vorteil dieser automatischen Stabilisatoren: sie wirken sofort, ohne zeitliche Verzögerung: wer arbeitslos wird und damit Lohneinkommen verliert zahlt keine Lohnsteuer mehr erhält aber unmittelbar Arbeitslosengeld.

Je höher die Staatsquote, desto besser wirken automatische Stabilisatoren

Wie groß die stabilisierende Wirkung des Arbeitslosgengeldes – des wichtigsten automatischen Stabilisators unter den Sozialausgaben – ist, hängt dabei von der Höhe der Ersatzrate und der Länge der Bezugsdauer ab. Während die skandinavischen Länder hinsichtlich Höhe und Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes nach wie vor Spitzenpositionen einnehmen, gefolgt von Belgien, den Niederlanden und Frankreich, liegen Deutschland und Österreich hinsichtlich der Höhe im unteren Mittelfeld. Ein geringe stabilisierende Wirkung aufgrund der schlechten sozialen Ausgestaltung hat das Arbeitslosengeld dagegen in den angelsächsischen, manchen südeuropäischen und den osteuropäischen Ländern.

Im Abschwung steigen allerdings nicht nur Ausgaben für Arbeitslosengeld, sondern auch jene für Pensionen, Invaliditätspensionen, Krankenstände, Sozialhilfe etc. Empirisch gibt es so z.B. einen engen Zusammenhang zwischen Konjunktur und Frühpensionierungen: in Zeiten der Rezession versuchen ArbeitnehmerInnen mit Gesundheitsproblemen als Alternative zu Arbeitslosigkeit ind die Invaliditätspension zu gehen.

Zur grundsätzlichen Wirksamkeit automatischer Stabilisatoren halten die AutorInnen des Beitrags daher fest:

„Gemäß allen Untersuchungen zur Wirksamkeit automatischer Stabilisatoren ist die Größe des Staatssektors gemessen an der Aubgaben- und Ausgabenquote entscheidend; je höher der Staatsanteil, desto stärker die Glättung der Einkommensentwicklung … Zudem spielen Budgetstruktur und institutionelle Faktoren eine wichtige Rolle für das unterschiedliche Ausmaß der Stabilisatorwirkung. Das Aufkommen direkter Steuern (z.B. Lohnsteuern, Einkommenssteuern, Anm.) reagiert stärker auf Konjunkturschwankungen als jenes von Sozialversicherungsbeiträgen und Verbrauchssteuern und hat deshalb eine größere Stabilisierungswirkung. Diese ist umso höher, je stärker der Progressionsgrad der Einkommenssteuern ist.“

Die AutorInnen weiter:

„Die Ausgestaltung des Abgaben- und Transfersystems bestimmt wesentlich, in welchem Ausmaß ein negativer Schock auf die Einkommen oder die Beschäftigung das verfügbare Einkommen der privaten Haushalte schmälert und damit die Gesamtwirtschaft beeinträchtigt.“

War die stabilisierende Wirkung des Sozialstaates in der EU schon deutlich höher als in der USA, gibt es auch innerhalb Europas deutliche Unterschiede. Im Falle einer krisenbedingten Verringerung der Bruttoeinkommen ist die Stabilisierungswirkung in Dänemark am größten – vor Belgien, Deutschland, Ungarn, Österreich und Schweden – in Estland, Spanien und Greichenland dagegen am geringsten. „Dies wird hauptsächlich durch Höhe und Progressionsgrad von Einkommenssteuer und Sozialversicherungsbeiträgen bestimmt.“


Hinsichtlich der ausgelösten Stabilisierungswirkung bei einem Anstieg der Arbeitslosigkeit ist diese in Dänemark am höchsten, gefolgt von Schweden, Deutschland, Belgien, Luxemburg und Österreich, während diese Wirkung in Estland, Italien und Griechenland am geringsten ist. Die Stabilisierungswirkung des Arbeitslosengeldes ist von Höhe und Bezugsdauer desselben bestimmt.

Sozialstaat schafft Sicherheit und beeinflusst Erwartungen und Verhalten

Soziale Sicherungssysteme, sind im Rahmen einer Stabilisierungspolitik nicht zuletzt deshalb von hoher Bedeutung, weil sie über Erwartungen das Verhalten der Wirtschaftssubjekte beeinflussen: in Zeiten der Rezession – also in der Krise – tragen gut ausgebaute Sozialleistungen wesentlich zur Vermeidung von Unsicherheit und damit zur Vermeidung von „Angstsparen“ und damit zur Stabilisierung der privaten Konsumausgaben bei. So gingen die Konsumausgaben im Euro-Raum von 2008 auf 2009 real um lediglich – 1,1 % zurück (EU gesamt: – 1,7 %).

Aus dem Artikel:

„Automatische Stabilisatoren und diskretionäre Maßnahmen der Sozialpolitik dürften wesentlich dazu beigetragen haben, die Erwartungen von privaten Haushalten und Unternehmen zu stabilisieren und die Unsicherheit in der Gesamtwirtschaft zu vermindern.“

Demnächst in Teil 2: Wie sozialpolitische Konjunkturpakete den Wachstumseinbruch gemindert und Beschäftigungseffekte erzeugt haben.

WIFO-Presseinformation vom 5. April 2011: Die stabilisierende Wirkung der Sozialpolitik in der Finanzkrise

Zitate aus dem Beitrag von Leoni/Marterbauer/Tockber in WIFO-Monatsberichte 3/2011, „Die stabilisierende Wirkung der Sozialpolitik in der Finanzmarktkrise“

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