BREXIT (I): Wer, Warum, Wo, Wie abstimmte

Das britische Meinungsforschungsinstitut „Lord Ashcroft Polls“ hat unmittelbar nach dem Referendum über 12.000 WählerInnen hinsichtlich Stimmverhalten und Motivationslagen befragt. Manche Ergebnisse der Erhebung kommen dabei durchaus bekannt vor. Etliche lassen auch Schlüsse auf die Stimmungslage am Kontinent, auch in Österreich. Und alle zeugen jedenfalls davon, dass dringender politischer Handlungsbedarf gegeben ist.

Am 23. Juni 2016 haben sich 51,9 % der BritInnen (rund 17,4 Mio.) für den Austritt Großbritanniens aus der EU ausgesprochen. 16,1 Millionen (48,1 %) stimmten für den Verbleib Großbritanniens in der Europäischen Union aus. Die Wahlbeteiligung lag bei 72,1 % und damit deutlich über jener der letzten Unterhauswahlen (66,1 %).

Die regionalen Unterschiede waren hinsichtlich des Stimmverhaltens groß:

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  • Im traditionell EU-freundlichen Schottland stimmten 62 % für den Verbleib in der EU, in Nordirland 55,8 % der EinwohnerInnen.
  • Mehrheiten für den Austritt gab es in bevölkerungsreichsten England (53,4 %) und Wales (52,5 %). Die LondonerInnen stimmten zu 60 % für den Verbleib.
  • Die höchste Zustimmung für ein „Remain“ gab es in der  britischen Enklave Gibraltar am südlichsten Zipfel der iberischen Halbinsel: hier stimmten 95,5 % der WählerInnen für den Vebleib.

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Einiges hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens – etwa nach Regionen oder Alter – ist inzwischen  publiziert worden. Wenig wurder allerdings darüber berichtet, welchen Einfluss Wertehaltungen hinsichtlich der Wahlentscheidung gespielt haben. Ob der Spalt quer durch die politischen Lager geht, oder ob die Wahlentscheidungen „linker“ und „rechter“ ParteigängerInnen doch signifikant unterschiedlich ausgefallen sind. Wie sehr nationalistische und/oder fremdenfeindliche Motive die Wahlentscheidung beeinflussten. Und schließlich die Frage, ob die Einkommens- oder Erwerbssituation eine wesentliche Rolle bei der Entscheidung für oder gegen die EU gespielt hat.

 

Abstimmungsverhalten nach Alter und Geschlecht

In den Medien ausführlich berichtet (nach dem Motto: „Die Alten stehlen den Jungen die Zukunft“) wurde das Abstimmungsverhalten entlang des Alters. Das Ergebnis in aller Kürze: je älter desto höher das Votum für einen Austritt.

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  • So stimmten 73 % der 18- bis 24-jährigen für den EU-Verbleib
  • 62 % der 25- bis 34-jährigen
  • und immer noch 52 % der 15- bis 44-jährigen
  • In der Altersgruppe der 45- bis 54-jährigen stimmten bereits 57 % für den Austritt
    bei über 65-jährigen 60 %

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Keinen Unterschied hinsichtlich des Abstimmungsverhaltens gab es allerdings entlang des Geschlechts: sowohl Frauen als auch Männer sprachen sich mehrheitlich mit 52 % gegen die EU-Mitgliedschaft aus.

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BREXIT_WaehlerInnegruppen_Alter

„How Britain voted“ – nach Alter, Geschlecht und sozialem Status. Grafik aus „Lord Ashcroft Polls“

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Abstimmungsverhalten nach „sozialem Status“

Wie haben Besserverdienende, wie Angestellte, ArbeiterInnen, PensionistInnen bzw. „Arme“ und Marginalsierte gestimmt? Wie jene, die verallgemeinernd als „Globalisierungsgewinner“, wie jene die oftmals vereinfachend und mit einem etwas abfälligem Unterton als „GlobalisierungsverliererInnen“ bezeichnet werden? Wie in Österreich wird auch in Großbritannien das Wahlverhalten sozialer Gruppen besonders ausgewertet. In Großbritannien wird dabei der soziale Status („soziale Klassen“) entlang sogenannter „Grade“ beschrieben:

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  • Der Grad „A“ oder „Upper Class“: In dieser Gruppe befinden sich höhere Manager, Fach- und Verwaltungskräfte Großbritanniens – insgesamt 4 % der Bevölkerung
  • Grad „B“ oder „Middle Class“:  Unter diese Kategorie fallen Beschäftigte des mittleren Managements, sowie mittlere Verwaltungs- und Fachkräfte, also „gehobene Angestellte“. Ihr Bevölkerungsanteil liegt bei 22 %.
  • Grad „C1“ – die „Lower Middle Class“ – umfasst die „klassische“ Angestelltenschaft, rund 27 % der britischen Bevölkerung.
  • Grad „C2“ – die „Skilled Working Class“ – ist die Gruppe, in der sich die qualifizierte ArbeiterInnenschaft, die FacharbeiterInnen befinden – mit einem Bevölkerungsanteil von 22 %.
  • Grad „D“ – die „Working Class“ – umfasst die halb- und ungelernte ArbeiterInnenschaft, überwiegende HilfsarbeiterInnen, rund 16 % der Bevölkerung des vereinten Königreichs
  • Grad „E“ – ist die Gruppe der Ärmsten in der Gesellschaft – Geringverdiener, PensionistInnen, Arbeitslose, Arme die auf Sozialhilfe und andere Sozialtransfers angewiesen sind – insgesamt 9 % der Bevölkerung.

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In der ausgeprägten britischen Klassengesellschaft werden die Gruppen ABC1 oft als „Middle Class“, die Gruppen C2DE als „Working Class“ zusammengefasst.

Hinsichtlich Erwerbstätigkeit und Nicht-Erwerbstätigkeit stimmte eine Mehrheit der Voll- und Teilzeitbeschäftigten für einen Verbleib in der EU. Die Mehrheit der Beschäftigten hat sich also der Position der britischen Gewerkschaften, die sich für ein „Remain“ engagierten angeschlossen. Dagegen stimmte eine Mehrheit der Nicht-Erwerbstätigen für einen Austritt.

Hinsichtlich des „sozialen Status“ sind allerdings deutliche Unterschiede feststellbar:

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  • Die wohlhabendere Middle Class“ – also die Gruppe der Grade A und B stimmten mit 57 % mehrheitlich für die Mitgliedschaft in der EU. Bei den „kleinen“ Angestellten ist das Abstimmungsverhalten noch relativ ausgeglichen: 51 % der Angestellten (Grad C1) sprachen sich hier gegen die EU-Mitgliedschaft aus.
  • Deutlich ablehnend zu einer EU-Mitgliedschaft verhielt sich dagegen die „Working Class“. Sowohl unter den FacharbeiterInnen als auch unter den Niedrigqualifizierten und den prekarisierten und marginalisierten Bevölkerungsteilen fiel das „Leave“ mit fast zwei Dritteln – nämlich 64 % – deutlich aus.

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Unter der ArbeiterInnenschaft hat damit weder das – kritische aber doch – „Ja“ der Gewerkschaften, noch die „Remain“-Kampagne der traditionellen ArbeiterInnenpartei „Labour“ verfangen. Dies liegt wohl einerseits an der seit Thatcher nachhaltig geschwächten Gewerkschaftsbewegung, andererseits, dass – wie auch in anderen europäischen Ländern beobachtbar – die ArbeiterInnenschaft in der Krise ökonomisch enorm unter Druck geraten ist. Es dominieren Einkommensverluste, Angst um den Arbeitsplatz und Perspektivenlosigkeit.

Politisch drückt sich diese Entwicklung in einem in beinahe ganz Europa zu beobachtenden „Rechtsruck“ weiter Teile der ArbeiterInnenschaft sowohl beim Wahlverhalten (zuletzt stimmten etwa bei den Bundespräsidentschaftswahlen in Österreich über 80 % der ArbeiterInnen für den FPÖ-Kandidaten Hofer) als auch hinsichtlich der Werthaltungen aus. Es sind vor allem die „zornigen weißen Männer“, die für nationalistische, chauvinistische, rassistische und  fremdenfeindliche Agitation zugänglich sind.

 

Nationale „Selbstbestimmung“ und Migration als wesentliche Beweggründe für „Leave“-WählerInnen

Das schlägt sich auch im Abstimmungsverhalten zur EU-Mitgliedschaft nieder:

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  • Während „weiße“ WählerInnen mehrheitlich (zu 53 %) für den Austritt stimmten, stimmten 67 % der WählerInnen asiatischer Herkunft und 73 % der „black voters“ für den Verbleib in der EU.
  • Während 58 % jener, die sich als ChristInnen bezeichneten für ein „Leave“ stimmten, waren 70 % der Muslime für die EU-Mitgliedschaft.
  • Dass das „Leave“-Voting stark von einem ausgeprägt „englisch“ definierten Nationalismus getragen war zeigen folgende Zahlen: Zwei Drittel der englischen „Leave“-Voters bezeichneten sich explizit als „englisch nicht britisch“. Umgekehrt sahen sich „Remain“-Voters zu zwei Drittel „mehr britisch als englisch“.
  • In England stimmten zwei Drittel jener, die sich als „mehr englich als britisch“ definierten für den Austritt. Umgekehrt stimmten in Schottland jene, die sich mehr als Schotten denn als Briten sehen mehrheitlich für einen Verbleib in der EU.
  • 49 % der AustrittsbefürworterInnen gaben die Rückgewinnung der nationalen Souveränität  („decisions about the UK should be taken in the UK“) als wesentlichen Grund für ihre Wahlentscheidung an.
  • Für ein Drittel der „Leave“-Stimmenden war die Migrationspolitik der wichtigste Grund („regain control over immigration and its own borders“) für ihre Wahl.
  • Dagegen gaben nur 13 % der Austritts-BefürworterInnen die EU-Erweiterungspolitik der letzten Jahre als Hauptgrund für ihre Wahl an und lediglich 6 % erhofften sich vom Austritt eine positiverer wirtschaftliche Entwicklung für Großbritannien.
  • BefürworterInnen der EU-Mitgliedschaft befürchteten dagegen im Falle eines EU-Austritts vor allem negative Auswirkungen auf die Beschäftigung sowie die Wirtschaft Großbritanniens sowie eine Isolation des Inselreiches.

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Wirtschaftliche Gründe spielten bei den BREXIT-BefürworterInnen also im Vergleich nur untergeordnete Rollen. Dominierend für AustrittsbefürworterInnen war die angebliche „Fremdbestimmung“ Europas über Großbritannien, die Personenfreizügigkeit innerhalb des EU-Binnenmarkts sowie eine behauptete Politik „offener Grenzen“ der europäischen Union.

Diese Wahrnehmungen sind insbesondere dahingehend bemerkenswert, da sich gerade Großbritannien zahlreichen Ausnahmeregelungen gegenüber der EU ausverhandelt hatte, sich vertiefenden Integrationsprozessen stets verweigerte und auch nicht dem „Schengen“-Raum angehört. Zusätzlich verhandelte die konservative britische Regierung im Vorfeld der Abstimmung mit der EU-Kommission auch eine restriktive Sozialpolitik gegenüber EU-Zuwanderinnen – Anspruchsberechtigung auf Sozialleistungen, Sozialwohnungen erst nach vierjährigem Aufenthalt, Familienleistungen für Kinder außerhalb Großbritanniens nur in Höhe der Regelungen vor Ort – um „Härte“ gegenüber MigrantInnen zu zeigen.

Einmal mehr bestätigt sich, dass Versuche der politischen „Mitte“, RechtspopulistInnen durch rechte Überholmanöver den Wind aus den Segeln nehmen zu wollen, zum Scheitern verurteilt sind und im Gegenteil – diese nur noch bestärken und „salonfähiger“ werden. In Großbritannien haben die Rechtsmanöver seitens der Konservativen zusätzlich zum ja eigentlich unerwünschten EU-Austritt zusätzlich noch das drohende Auseinanderbrechen des Vereinigten Königreichs zur Folge. Die Konservativen haben hoch gepokert – und tatsächlich noch höher verloren …

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Teil 2: BREXIT (II): „Rechtes“ Leave vs. „linkes“ Remain – Warum ein EU-Austritt für Linke keine Perspektive sein kann

Kommentar zu „BREXIT (I): Wer, Warum, Wo, Wie abstimmte“

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