Change Greek? Change Europe? …. Die Hoffnung lebt!
13. Januar 2015 von adminalternative
Eine kurze Bilanz europäischer „Krisenbewältigung“:
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- Laut eurostat ist der Schuldenstand der EU-18 („Eurozone“) seit 2010 trotz – oder gerade wegen – Fiskalpakt, Schuldenbremse und Austeritätspolitik von 83,7 Prozent des BIP auf 90,9 Prozent gestiegen.
- Die Arbeitslosigkeit ist seit 2010 im Euroraum von bereits hohen knapp 10 Prozent ( 2008: knapp unter 7 Prozent) noch einmal auf 11,5 Prozent im November 2014 gestiegen. In der gesamten EU waren 24,4 Mio. Menschen arbeitslos, davon in der Eurozone rund 18,4 Mio.
- 2013 waren in allen 28 Staaten der EU 122,6 Mio. Menschen oder 24,5 Prozent der Bevölkerung von Armut und/oder sozialer Ausgrenzung betroffen. Diese Zahl blieb im Vergleich zum Vorkrisenjahr 2008 überraschend stabil, wobei allerdings Krisenstaaten einen ungleich stärkeren Anstieg von Armutsbetroffenen zu verzeichnen hatten. So stieg in Spanien der Anteil der Armen und sozial Ausgegrenzten von 24,5 auf 27,3 Prozent, in Ungarn von 28,2 auf 33,5 Prozent und in Italien von 25,3 auf 28,4 Prozent. Besonders stark war der Anstieg allerdings in Griechenland – von 28,1 auf 35,7 Prozent der Bevölkerung.
- Parallel mit der Austeritätspolitik gehen nicht nur steigende Armut und Arbeitslosigkeit, sondern auch eine drastische Umverteilung von Arbeit hin zu Kapital, die in sinkenden Lohnquoten ihren Ausdruck findet. Im gesamten Euroraum ist seit 2009 die Lohnquote – also der Anteil der Löhne an der Wirtschaftsleistung – um 1,1 Prozentpunkte gefallen. In den Krisenländern Spanien und Portugal um 4,7 bzw. 5,4 Prozentpunkte, in Zypern um 6,1 Prozentpunkte, in Griechenland gleich um 8,2 Prozentpunkte. In Zypern und Griechenland liegt die Lohnquote inzwischen unter der 50-Prozent-Grenze. Das heißt: die Gewinn- und Kapitaleinkommen einiger weniger liegen höher als die Lohn- und Gehaltseinkommen der Masse der ArbeitnehmerInnen!
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Die griechische Katastrophe
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Die massiv sinkende Lohnquote ist u.a. Folge tiefgreifender Strukturreformen in der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik, die unmittelbar auf eine Schwächung und Entrechtung der ArbeitnehmerInnen und ihrer Interessensvertretungen – der Gewerkschaften – abzielen. In sämtlichen Krisenländern wurden Mindestlöhne gesenkt oder zumindest eingefroren, Kollektivverträge durchlöchert und die aus ArbeitnehmerInnensicht ungleich schwächere betriebliche Ebene bei der Lohnfindung gestärkt und Arbeitsplätze im öffentlichen Dienst abgebaut – zur Steigerung der „Wettbewerbsfähigkeit“. Experimentierfeld hinsichtlich Umfang und Radikalität derartiger Reformen der Arbeitswelt war bzw. ist das besonders krisengeschüttelte Griechenland:
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- In Griechenland wurde es auf betrieblicher Ebene „erlaubt“, von Flächenkollektivverträgen abweichende Verträge auszuverhandeln. 2012 sind derartige „Haustarifverträge“ gegenüber 2011 um das Vierfache angestiegen. In 80 Prozent der Fälle waren Lohnkürzungen Inhalt derartiger betrieblicher Vereinbarungen.
- 2010 wurden die Mindestlöhne nicht erhöht, 2011 wurde der nationale Mindestlohn um 22 Prozent gesenkt, für Jugendliche unter 25 sogar um rund 32 Prozent – was dazu führte, dass der Mindestlohn unter der Armutsgefährdungsschwelle liegt. Im öffentlichen Dienst wurden die Gehälter um 30 Prozent gekürzt. Insgesamt sanken die Reallöhne in Griechenland zwischen 2009 und 2014 um fast 24 Prozent.
- Dramatische Folgen hatte die Griechenland seitens der Troika auferlegte Sparpolitik auf die Beschäftigungssituation. Mit – laut eurostat – 25,7 Prozent Arbeitslosen im November 2014 hält Griechenland den traurigen Spitzenplatz in Europa. Noch dramatischer stellt sich nur noch die Jugendarbeitslosigkeit mit 49,8 Prozent dar. Die Zahl der Haushalte mit „sehr niedriger Erwerbstätigkeit“ (die Erwachsenen eines Haushaltes haben weniger als 20 Prozente ihres Erwerbspotentials ausgeschöpft) hat sich seit 2008 von 7,5 auf über 18,2 Prozent 2013 mehr als verdoppelt.
- Mit Arbeitslosigkeit einher, gehen Armut und Armutsgefährdung, die in Griechenland mit 35,7 Prozent der Bevölkerung Rekordwerte erreicht haben. Dass die sozialen Netze als Folge der Austeritätspolitik nicht mehr greifen, belegt nicht zuletzt, dass die Zahl armutsgefährdeter Personen nach Zahlung von Sozialleistungen wie Pensionen seit 2008 von 20,1 auf 23,1 Prozent gestiegen ist.
- Massiv eingebrochen ist die gesamte wirtschaftliche Entwicklung. Seit 2010 ist das BIP – also die gesamte in Preisen messbare Wirtschaftsleistung eines Landes – in Griechenland von 222 Mrd. Euro auf 182 Mrd. Euro 2013 um 18 Prozent gefallen, seit 2008 sogar um 25 Prozent.
- Der Staatsschuldenstand hat sich im Gegenzug im Verhältnis zur Wirtschaftsleistung von 148,3 Prozent auf 175,1 Prozent drastisch erhöht. Sozial wie ökonomisch kaputt gespart …
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Zusammengebrochenen Sozialsysteme, Massenarbeitslosigkeit, Armut und soziales Elend nie bekannten Ausmaßes. Von einem „Aufschwung“ – mögen ihn auch ApologetInnen der Austeritätspolitik herbeischreiben – nichts zu sehen. Von den Rettungsmaßnahmen tatsächlich profitiert haben die Gläubiger, die Banken und Geldgeber. Die GriechInnen definitiv nicht. Nun gibt es Neuwahlen. Und damit die Hoffnung bzw. die Chance auf ein Ende des ruinösen Sparkurses durch eine Abwahl der konservativ-sozialdemokratischen Regierung. Nun gibt es die Möglichkeit, dieses „Bestrafungsregime“ der Troika – denn mit Hilfe haben die auferlegten bzw. „empfohlenen“ Maßnahmen von EU-Kommission, EZB und IWF tatsächlich nur wenig zu tun – wenn schon nicht ganz abzuschütteln doch zumindest deutlich aufzuweichen. Denn, laut Umfragen könnte die linke SYRIZA stimmenstärkste Partei werden und erstmals den griechischen Premierminister stellen. Und in Resteuropa herrscht ob dieser Möglichkeit hellste Aufregung. Und es wird massiv Druck auf die „richtige“ Wahlentscheidung gemacht – Druck darauf, dass kurioserweise ausgerechnet jene korrupte Eliten, die Griechenland in dieses Desaster geführt haben, die ab er brav den aufoktroyierten Spar- und „Reformkurs“ exekutieren, auch ja wieder die nächste Regierung stellen. Es würde kein Geld aus dem Eurorettungsfonds mehr geben, sollte Griechenland nicht weiter „Strukturreformen“ – sprich weiteren sozialen Kahlschlag – vorantreiben. Es drohe der „Grexit“, der Rausschmiss Griechenlands aus dem Euro, sollten die Schulden nicht beglichen werden.
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SYRIZA: Ökonomische Vernunft als Programm
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Was beinhaltet das Programm von SYRIZA tatsächlich Erschreckendes, um halb Europa in Angst und Panik zu versetzen? Nun, etwas, woran es der europäischen Wirtschaftspolitik unter dem Diktat der deutschen Bundeskanzlerin Merkel so dramatisch mangelt: ökonomische Vernunft und Weitsicht. Was SYRIZA fordert ist tatsächlich nur für konservative HardlinerInnen und unbelehrbare Wirtschaftsliberale wirklich revolutionär. Viele wirtschaftspolitische Positionen SYRIZAS entsprechen längst linkem „Mainstream“ in Europa und werden über weite Strecken von ÖkonomInnen geteilt, die sich als fortschrittlich, ja selbst gemäßigt keynesianisch verstehen – was scheinbar für manche politischen BeobachterInnen in die Kategorie „linksradikal“ fällt. Um zur Erkenntnis zu kommen, dass die Austeritätspolitik die Krise vielmehr verschärft, statt zu überwinden hilft, braucht es nicht SYRIZA sondern genügen wirtschaftspolitischer Hausverstand und ein Blick in Analysen des Währungsfonds, in denen selbiger inzwischen zähneknirschend eingestehen muss, dass die katastrophalen Folgen der Sparpolitik für die ökonomische Entwicklung sträflich unterschätzt wurden.
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Was will also SYRIZA?
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- Eine der zentralsten Forderungen SYRIZAS ist eine europäische Schuldenkonferenz und einer Neuverhandlung der Schuldentilgung. Tatsächlich wird Griechenland – insbesondere dann, wenn der aufgezwungene Sparkurs fortgesetzt wird – selbst langfristig nicht in der Lage sein, seine Schulden zu begleichen. Ziel derartiger Neuverhandlungen sind neben der (teilweise) Streichung von ohnehin uneinbringlichen Staatsschulden die Festlegung von Zahlungsmodalitäten für Zinsendienst bzw. Schuldentilgung. Insbesondere will SYRIZA aber Mittel für öffentliche Investitionen zur Wiederbelebung der griechischen Volkswirtschaft frei machen. Das würde einen Bruch mit der bislang betriebenen Austeritätspolitik in Europa bedeuten, eine Forderung, die nicht zuletzt etwa auch seitens der AK („Goldene Investitionsregel“), der europäischen Gewerkschaftsbewegung, seitens linker, sozialdemokratischer und grüner PolitikerInnen und von so gut wie allen Starökonomen jenseits des Marktfundamentalismus – wie etwa Krugman, Stiglitz – erhoben wird. Und eben nicht zuletzt der Internationale Währungsfonds, der in einer Studie im Nachhinein die Sparpolitik und das Rückfahren öffentlicher Investitionen aus Gründen der Budgetkonsolidierung als schweren Fehler bezeichnete.
- SYRIZA will weiters eine Neuausrichtung der Politik der EZB, der europäischen Zentralbank. Diese soll direkt und unmittelbar Programme für öffentliche Investitionen finanzieren. Auch die Forderung nach einer „Neuausrichtung“ der EZB ist nicht neu und wird nicht nur von alternativen ÖkonomInnen erhoben. Nicht zuletzt im Zuge der Eurokrise wurde gefordert, dass die EZB die übliche Rolle einer Nationalbank als „lender of last resort“ – also als letzte Finanzierungsinstanz, als Garant für die Schulden in der Eurozone – auftreten sollte. Statt Banken mit „billigem“ Geld zu versorgen, sollte die EZB Staatsanleihen am Primärmarkt kaufen können und so den Staaten günstige Finanzierungsmöglichkeiten eröffnen. Im Zusammenhang mit dem Beschluss über den „Rettungsschirm“ (ESM) wurden auch Stimmen seitens einzelner EU-Staaten wie etwa Frankreich, laut, diesen mit einer Bankenlizenz zu versehen: der ESM sollte sich günstig bei der EZB refinanzieren und Kredite für öffentliche Investitionen vergeben können.
- SYRIZA fordert die Anhebung der Einkommenssteuer ab einem Einkommen von 500.000 Euro auf 75 Prozent. Zusätzlich will SYRIZA die Steuerprivilegien für die Kirche sowie die Reedereien abschaffen, die Unternehmenssteuern auf europäisches Niveau anheben und eine Sondersteuer auf Luxusgüter einheben. Zusätzlich soll das Bankgeheimnis aufgehoben werden und die Kapitalflucht bekämpft werden. SYRIZA will also einen Beitrag der „Reichsten“ zur Budgetkonsolidierung und zur Finanzierung öffentlicher Investitionen. Nun, das mag für die finanziellen und politischen Eliten unter „linksradikal“ und „linksextrem“ laufen, ökonomisch machen diese Maßnahmen durchaus Sinn. Sie bringen dringend benötigte zusätzliche Steuereinnahmen, die nicht nur mehr Steuergerechtigkeit herstellen, sondern insbesondere auch so gut wie keine negative konjunkturelle Impulse setzen. Während Maßnahmen wie eine Erhöhung von Mehrwert- und anderen Massensteuern unmittelbar Kaufkraft und Nachfrage schwächen, haben „Reichensteuern“ kaum Auswirkungen auf den Konsum, schon gar nicht auf den Massenkonsum. Im Gegenteil: nach dem norwegischen Ökonomen Haavelmo sind derart voll steuerfinanzierten öffentlichen Investitionen besonders konjunkturwirksam, weil der Staat keine marginale Sparqoute aufweist und eingenommen Steuern so zu 100 Prozent investiert werden. Dadurch wird – unter Beachtung des Multiplikatoreffekts – ein höheres Volkseinkommen erzielt, als etwa über eine Steuersenkung, da ein Teil dieser Senkung von den Haushalten gespart wird, und nur ein Teil konsumiert („Haavelmo-Theorem“). Vermögenssteuern, die befristete Erhöhung des Spitzensteuersatzes, die Streichung von unzulässigen Steuerprivilegien zur Finanzierung öffentlicher Investitionen in Soziale Dienste, Klimaschutzmaßnahmen, Infrastruktur, Bildung etc. sind längst Standardrepertoire so gut wie aller Parteien, Organisationen, WissenschafterInnen, NGO „links“ der rechten Mitte. Für den STANDARD-Kommentator Hans Rauscher mögen derartige Forderungen vielleicht bedrohlich wirken. Vernünftig, der Situation angemessen und notwendig sind sie allemal.
- Bleiben zuletzt die arbeitsrechtlichen und sozialpolitischen Maßnahmen, die Tsipras umsetzen will. Hier seien so „linksreaktionäre“ (O-Ton Rauscher) Forderungen wie die Erhöhung des Mindestlohns auf – ursprüngliche – 750 Euro/Monat, die gleiche Bezahlung von Männern und Frauen und die Eindämmung der Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen. Zusätzlich sollen Kollektivverträge wieder volle Gültigkeit erlangen und öffentliche Aufträge an faire Arbeitsbedingungen geknüpft werden. Beschämend für Europa im 21. Jahrhundert: An öffentlichen Schulen soll es Gratisfrühstück und Gratismittagessen für die immer größer werdende Zahl hungernder Kinder geben! Wahrlich „linksreaktionär“ …. Was Syriza auch will: Steuersenkungen für Güter des alltäglichen Bedarfs und eine Erhöhung der Arbeitslosenunterstützung. Abgesehen vom sozialpolitischen Gehalt dieser Forderungen wirken all diese Maßnahmen konsumstützend und wachstumsfördernd, zielen sie doch unmittelbar auf die finanzielle Stärkung unterer und mittlerer Einkommensgruppen, deren Kaufkraft durch Mindestlöhne, Kollektivverträge und höhere Sozialleistungen steigt. „Linksreaktionär“? Nein, vielmehr ein Gebot der Stunde.
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Chance auf einen Kurswechsel
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Mit der Wahl in Griechenland besteht damit die ernsthafte Chance auf einen Kurswechsel in Europa. Die Chance, wie der Literat Karl-Markus Gauss in einem STANDARD-Kommentar ausführt, „…. dass die Union nicht mit jener Sparpolitik fortfahre, von der zahllose Ökonomen vom Amerikaner Krugman bis zum Österreicher Schulmeister nachgewiesen haben, dass sie nicht nur asozial und ungerecht, sondern auch unproduktiv und zerstörerisch ist.“ In Griechenland habe die Krise begonnen – angeblich, „… denn in Wahrheit begann sie viel früher und ganz woanders, mit der neoliberalen Zurüstung der europäischen Ökonomie und mit der profitablen Illusion, Geld vermehre sich von selbst“, so Gauss weiter, in Griechenland könnte auch der Weg aus der Krise seinen Anfang nehmen.
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Nach einer ersten Welle politischer und medialer Panikmache vor einem SYRIZA-Sieg scheint diese inzwischen etwas zu verebben. Es zieht wieder mehr Nüchternheit – ja punktuell sogar etwas Wohlwollen – in die politische und mediale Diskussion ein. Selbst ein neuerlicher „Schuldenschnitt“ ist inzwischen kein Tabu mehr. Allerdings wird sich der politische und ökonomische Druck auf Die GriechInnen auch ja „richtig“ zu Wählen bis zum 25. Jänner noch einmal erhöhen.
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Es wird nicht zuletzt an einer kritischen europäischen Öffentlichkeit – und dabei auch an den Gewerkschaften – liegen, politischer Panikmache und ökonomischen Drohgebärden mit wirtschaftlicher Vernunft und Solidarität zu begegnen. Unabhängig davon, wie man zu SYRIZA als Partei, zu Tsipras oder zu einzelnen Forderungen und Positionen steht: die Wahl in Griechenland könnte zum Wendepunkt in der europäischen Krisenpolitik werden. Mit einem SYRIZA-Wahlsieg scheint ein Bruch mit der Austeritätspolitik und ein sozial-ökologischer Kurswechsel möglich. Ohne diesen, droht ein solcher in weite Ferne zu rücken. Gründe genug, auf einen Sieg von SYRIZA zu hoffen und SYRIZA dabei bestmöglich zu unterstützen. Gerade auch bei uns …
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Linktipps:
Solidarisch für einen Kurswechsel in Griechenland und in Europa: Jetzt den Appell „Change Greece – Change Europe – Change4all!“ unterzeichnen!
Auf facebook: Griechenland entscheidet, aktuelle Infos rund um die Wahl in Griechenland, SYRIZA, EU-Reaktionen etc.
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Archiv:
14. August 2012: Griechenland raus aus dem Euro?
18. Juni 2011: Als Griechenland Deutschland die Schulden erließ