„Europäische Wirtschaftsregierung“ beschlossen: More of the same … nur noch schlimmer

Nun ist sie also tatsächlich Wirklichkeit geworden: die „EU-Wirtschaftsregierung“. Das Economic Governance-Paket, das „Six Pack“ ist vom EU-Parlament in allen Punkten von einer konservativ-liberalen Mehrheit beschlossen worden. SozialdemokratInnen, Grüne und Linke haben zwar große Teile abgelehnt. Allein: es nützt nichts. Sie haben keine Mehrheiten. Und so mancher Vertragsteil wird – etwa auch von grüner Seite – zu „optimistisch“ interpretiert.

Der ÖGB-Büro in Brüssel hat eine Ersteinschätzung des beschlossenen Pakets verfasst. Schlussfolgerungen: auch wenn einige Verbesserungen im Vergleich zum „alten“ Kommissions-Entwurf und den Irrwitzigkeiten der konservativ-liberalen Parlamentsmehrheit (noch schärfer und schneller wirkende Sanktionsmechanismen wurden da etwa gefordert) erzielt wurden, werden „die Weichen falsch gestellt“ und werden „ArbeitnehmerInnenrechte, Löhne und KV-Verhandlungen unter Druck geraten“. Durch die Verschärfung des Stabilitätspakts werde eine „Einseitige Sparpolitik festgeschrieben“. Der EGB – der Europäische Gewerkschaftsbund kritisiert „Lohnwettbewerb nach unten, verschärfte Sparpolitik und falsche wirtschaftspolitische Ausrichtung“.

Hintergrund

Am 29. September 2010 präsentierte die EU-Kommission vor dem Hintergrund der Finanzkrise die zur stärksten Wirtschaftskrise der Nachkriegszeit, zu milliardenschweren Rettungspaketen für Banken und Konjunktur und entsprechenden Defiziten und Schuldenständen bei den Staaten führte, ein umfassendes Legislativpaket („Six-Pack“) zur „Economoic Governance“ in Europa. Mit diesen Verordnungen und Richtlinien sollte eine „umfassende Verstärkung“ der wirtschaftspolitischen Steuerung in der EU und im Euro-Raum erreicht werden. Zentrale Bausteine dieser „Europäischen Wirtschaftsregierung“: die Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspaktes, schärfere automatisch wirkende Sanktionsmechanismen, eine bessere Überwachung der Haushaltspolitik aber auch der Wirtschafts- und Strukturpolitik der Mitgliedsstaaten.

Tatsächlich zielte das Paket inhaltlich

  • auf eine Verschärfung der Sparpolitik und ein massive Einschränkung antizyklischer – also gegen Krisen wirkende – Fiskalpolitik ab. Einsparungspotentiale werden dabei vor allem im Sozialbereich sowie in den öffentlichen Diensten verortet.
  • auf Maßnahmen zur Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit, der Leistungsbilanzen oder Preis- und Kostenentwicklung ab. „Makroökonomische Ungleichgewichte“ sollen abgebaut werden – was allerdings vor allem auf jene Länder mit Leistungsbilanzdefiziten abzielt. Insbesondere Löhne und Arbeitsmärkte – erstere gehören nach neoliberaler Logik gesenkt, zweitere liberalisiert und dereguliert – stehen dabei im Focus entsprechender Maßnahmen. Notfalls sollen Länder, die sich dem Drängen auf „wettbewerbssteigernde“ Maßnahmen verweigern über Sanktionen unter Druck gesetzt werden. Für Staaten mit Leistungsbilanzüberschüssen- der anderen Seite der Medaille „makroökonomischer Ungleichgewichte“ – sind dagegen keinerlei Sanktionen, wie etwa Lohnsteigerungen, stärkung der Binnennachfrage etc. vorgesehen.

Die Pläne zu einer EU-Wirtschaftsregierung wurden dabei von Gewerkschaftsseite ebenso heftig krisiert wie seitens kritischer ÖkonomInnen (erinnert sei hier noch einmal an die hervorragende BEIGEWUM-Analyse von Christa Schlager/Elisabeth Klatzer), aber auch von den linken Fraktionen im EU-Parlament.

Nach mehrmonatigen Verhandlungsphasen haben sich nun EU-Parlament, EU-Rat und Kommission auf einen Kompromiss geeinigt. Nach Beschluss des EU-Parlaments wird schließlich der ECOFIN-Rat am 4. Oktober das Paket formell billigen.

Bewertung aus gewerkschaftlicher Sicht

Das ÖGB Büro in Brüssel stellt in seiner Einschätzung die Frage, ob aus Gewerkschaftssicht bestimmte Kernforderungen efüllt, bzw. zentrale Kritikpunkte aufgehoben worden seien oder nicht. Wenig überraschend: nur wenig wurde erfüllt.

1. Schutzklausel gegen Eingriffe in Löhne und Lohnfindung teilweise durchgesetzt


Was den Gewerkschaften gelungen ist: in die Verordnung über die makroökonomischen Ungleichgewichte ist eine Schutzklausel eingefügt worden, wonach das Recht auf Kollektivvertragsverhandlungen und auf Arbeitskampfmaßnahmen nicht beeinträchtigt werden darf. Das bedeutet, dass politische „Empfehlungen“ zur Behebung „makroökonomischer Ungleichgewichte“ nationale Lohnfindungs- und/oder Mindestlohnsysteme nicht angreifen dürfen. Weiters heißt es:

„Der EGB vertritt die Auffassung, dass in diesem Zusammenhang auch keine Sanktionen gegen Länder verhängt werden dürfen, die Forderungen nach einer Schwächung und Deregulierung von Lohnfindungssystemen nicht nachkommen.“

Damit scheint der Pfad in Richtung „autoritärer Kapitalismus“ – also die massive Einschränkung gewerkschaftlicher Macht und Aushebelung sozialer Grundrechte, wie eben des Streikrechts – in diesen Bereichen vorerst einmal etwas verbaut. Allerdings: eine zweite Schutzklausel, wonach sich Empfehlungen überhaupt nicht auf Bereiche Beziehen dürfen, die außerhalb des Kompetenzbereichs der EU liegen – und das sind nun mal auch Löhne – wurde im Zuge der Verhandlungen wieder gestrichen!

2. Kein symmetrischer Ansatz zwischen Überschuss- und Defizitländern

Während Sven Giegold – Finanzexperte der europäischen Grünen – darauf besteht, dass künftig auch Leistungsbilanzüberschussländer wie Deutschland für ihre „makroökonomischen Ungleichgewichte“ beheben und ggf. sanktioniert werden müssen – etwa durch eine offensive (Mindest-)Lohnpolitik – sieht das der ÖGB ganz anders. Und der ÖGB dürfte mit seiner Einschätzung auch Recht behalten. Hinsichtlich der Sanktionierbarkeit „makroökonomischer Ungleichgewichte“ bleiben die Leistungsbilanzdefizitländer im Fokus der EU-Institutionen. Überschuss- und Defizitländer werden unterschiedlich, also nicht „symmetrisch“ behandelt. Während Maßnahmen für Defizitländer ein sanktionierbares „Muss“ sind, gibt es für Überschussländer lediglich „Soll“-Bestimmungen, wie auch in einer Erklärung der EU-Kommission unterstrichen wird (siehe Download in Giegold-BLOG-Beitrag, interessanterweise von selbigem gegenteilig interpretiert):

The Regulation recognises that the nature, importance and urgency of the policy challenges may differ significantly depending on the Member States concerned, and that given vulnerabilities and the magnitude of the adjustment required, the need for policy action is particularly pressing in Member States showing persistently large current-account deficits and competitiveness losses.
It also recognises that in Member States that accumulate large current account surpluses, policies should aim to identify and implement the measures that help strengthening their domestic demand and growth potential. In implementing the Regulation, the Commission is fully committed to respect this approach and will ensure that macroeconomic surveillance covers countries with current account deficits and surpluses with appropriate differentiation as regards the urgency of policy responses and the type of corrective actions required.

(Makroökonomische Ungleichgewichte als wesentliche Krisenursache siehe Beitrag hier)

3. Automatische Sanktionen („umgekehrte Mehrheitsentscheidungen“) festgeschrieben


Dieses demokratiepolitisch außerordentlich bedenkliche Verfahren (automatischer Sanktionsmechanismus der nur rückwirkend von einer entsprechend qualifizierten Mehrheit ausgesetzt bzw. aufgehoben werden kann) wurde entgegen zahlreicher Bedenken für einige Fälle dezidiert festgeschrieben, darunter

„Die Entscheidung darüber, ob ein Mitgliedsstaat empfohlene Korrekturmaßnahmen bei einem ‚übermäßigem Ungleichgewicht‘ durchgeführt hat, Entscheidungen über Sicherstellungen und Strafen für Defizitländer, die Entscheidung über verzinsliche Einlagen (präventiver Arm des SWP, Stabilitäts- und Wachstumspakt, Anm.) sowie über nicht verzinsliche Einlagen und Strafen im kollektiven Arm des SWP.“

4. Verschärfung des Stabilitätspakts – massiver Sozialabbau droht und „prozyklische“ Effekte zu befürchten


Mit zwei ihrer Hauptideen zur Verschärfung des SWP hat sich die Kommission durchgesetzt: das jährliche Ausgabenwachstum muss sich an der BIP-Wachstumsprognose orientieren. Und: Die Verschuldung muss auf die 60 %-Marke gedrückt werden. Dazu soll die über der 60 % liegende Verschuldung ab 2014 jährlich um mindestens 1/20 reduziert werden. Für Österreich würde dies etwa bedeuten (bezogen auf die Zahlen für 2010):

Staatsschuldenstand 2010: ca. 205 Mrd. Euro
BIP 2010: ca. 286 Mrd. Euro
Staatsschuldenstand im Verhältnis zum BIP: 72,2 %
„Überschuss“ über 60 %: ca. 33,5 Mrd. Euro
zusätzlicher Konsolidierungsbedarf 1. Jahr (1/20 des „Überschuss“): 1,67 Mrd. Euro


(Quelle: Statistik Austria, Daten für 2010)

Beide Maßnahmen lassen „prozyklische“ Wirkungen – also Wirkungen die z.B. eine Rezession bzw. eine Krise noch verschärfen – befürchten: Wenn bei einem Konjunktureinbruch, bei einem Wirtschaftsabschwung die Arbeitslosigkeit steigt, werden Mitgliedsländer tatsächlich Probleme haben, die Ausgaben zu drosseln. Und das wäre auch kontraproduktiv, wirkt das Arbeitslosengeld doch als „automatischer Stabilisator“ um Nachfrage zu erhalten. Die verordnete Ausgabenreduzierung aufgrund niedrigerer Wachstumsraten würde somit die Krise nur noch verschärfen – also „prozyklisch“ wirken, wo eine expansive, „antizyklische“ Ausgabenpolitik – also öffentliche Investitionen um Beschäftigung zu erhalten – gefragt wäre. Gleiches gilt für Schuldenabbauregel: mitten in Krisenzeiten, wo Einnahmen wegbrechen, müssen die Mitgliedsstaaten ihre Staatsschulden abbauen, also Sparpakete schnüren und Ausgaben drastisch drosseln – was natürlich kontraproduktiv wirkt. Auch wenn gewisse Investitionen und Leistungen für Arbeitslose auf der „Ausgabenwachstumsregel“ ausgenommen wurden und die „Schuldenrückführung“ in einem 3- Jahresschnitt erfolgen kann – die grundsätzlichen Verschärfungen bleiben.

Die rein ausgabenseitige Orientierung wird dabei nicht nur vom ÖGB sondern auch von dem ehemaligen ATTACler und nun Grünen EU-Finanzssprecher Giegold kritisiert und entsprechend abgelehnt: zwar gebe es auch von seiner Seite ein Bekenntnis zu Staatschuldenabbau, allerdings seien die Maßnahmen auf der

„… staatlichen Einnahmeseite blind und setzen einseitig auf Ausgabenkürzungen, um Staatsschulden zu verringern. Mit diesem Weg werden die Lasten der Haushaltskonsolidierung vor allem auf den Schultern der Mittelschicht, Geringverdiener und Armen abgeladen. Außerdem drohen Zukunftsinvestitionen wie Bildung und erneuerbare Energien im Rahmen eines Grünen New Deals unter die Räder der einseitigen Konsolidierung zu geraten.“

Und Giegold weist auch auf die dramatischen Auswirkungen dieser Sparpolitik hin:

„Die dramatische Lage in den südeuropäischen Krisenländern verdeutlicht die Auswirkungen dieser einseitigen Austeritätspolitik: In Griechenland, und Portugal ist die Arbeitslosigkeit von 2008 bis 2010 stark angestiegen, in Spanien hat sie sich im Vergleich zum Vorkrisen Niveau von rund 11% (2008) fast verdoppelt auf rund 20% (2010). Außerdem leben in Griechenland und Portugal mittlerweile 20% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze. In Spanien ist die Anzahl an Menschen, die mit weniger als 530 Euro monatlich auskommen müssen, innerhalb von drei Jahren um eine Million, auf über 9 Millionen, angewachsen.“

Alles nun beschlossen vom Europäischen Parlament, von der Europäischen Kommission, demnächst vom Europäischen Rat. More of the same, teilweise schlimmer als zuvor. Der Kapitalismus Marke EU wird ausgrenzender, „autoritärer“.

Der ÖGB fasst seine Kritik entsprechend zusammen:

1. Die Kritik der europäischen Gewerkschaften war richtig und bleibt richtig: Das vorliegende Paket enthält kein Konzept für Wachstum und Beschäftigung. Trotz einiger Entschärfungen durch das EP bleibt es bei einer einseitigen Fixierung auf Budgetkonsolidierung und verschärfter Sparpolitik. Diese Art von „Wirtschaftsregierung“ gibt keine Wachstumsperspektive; ein „Herauswachsen“ aus Krise und Schulden wird erschwert. Außerdem setzt das Paket einseitig bei einer Verschärfung des SWP an, obwohl die Ursachen der derzeitigen „Schuldenkrise“ ganz woanders liegen.

2. Es muss unter diesem Economic Governance-Regime mit einer weiteren Abnahme öffentlicher Investitionen am BIP sowie unsozialen Einschnitten im öffentlichen Dienst und bei Sozialleistungen gerechnet werden. Sanktionen beim SWP greifen früher und schneller, idR sogar automatisch, wenn der Rat nicht mit qualifizierter Mehrheit widerspricht. Vernünftige antizyklische Fiskalpolitik wird eingeschränkt. …

3. Der einseitige („asymmetrische“) Ansatz bei der Bekämpfung makroökonomischer Ungleichgewichte wird zu weiterem Druck auf Defizitstaaten führen, (Lohn-)Kosten zu senken, Strukturreformen durchzuführen und Arbeitsmärkte zu deregulieren.

4. Das Paket ist neben dem Euro-Plus-Pakt und dem Europäischen Semester ein weiteres Puzzleteil beim Umbau der EU in eine verpflichtende neoliberale Wettbewerbsunion, die auf den niedrigsten Löhnen bzw. Lohnsteigerungen, den niedrigsten Unternehmenssteuern und möglichst niedrigen sozialen Standards beruht.

5. Das Economic Governance-Paket wird von der EU-Kommission und insbesondere der DG ECFIN genutzt werden, noch stärker die Frage der Lohnentwicklung in der EU und Eurozone zu verfolgen. Mitgliedsländer mit solider Lohnentwicklung und guten KV-Systemen könnten mittelfristig unter Druck geraten, während eine Politik der Lohnmäßigung und Zunahme prekärer Beschäftigung im Einklang mit den Vorschriften steht.

6. Deshalb ist die Verankerung der Schutzklausel gegen Eingriffe in KV-Autonomie und Lohnfindungssysteme ein großer Erfolg für den EGB und die europäischen Gewerkschaften: Diese Klausel muss in Zukunft so weit wie möglich genutzt werden, um die Absichten der EU-Kommission, Lohnfindungssysteme zu deregulieren, bereits im Ansatz zu ersticken. Eine „Europäisierung“ der Lohnkoordinierung unter „Aufsicht“ der EU-Institutionen ist inakzeptabel.

Zusammenfassend geht das gesamte Paket trotz einiger (wichtiger) Verbesserungen in die grundsätzlich falsche Richtung und ist deshalb abzulehnen. Wären EU und Mitgliedstaaten schon während der großen Rezession 2009 an die verschärften Budgetregeln dieses Economic Gouvernance-Pakets gebunden gewesen, wäre Europa direkt in eine noch tiefere wirtschaftliche Depression gefallen.

Diese Economic Governance beschäftigt sich mit Symptomen, ohne die wirklichen Ursachen der Krise anzugehen. Diese lagen und liegen immer noch in der Deregulierung der Finanzmärkte und verantwortungsloser Spekulation, die die Budgets in eine Schieflage gebracht haben – nicht in zu hohen öffentlichen Investitionen oder Löhnen.

Linktipps:

ÖGB-Büro in Brüssel

EGB zu Europaen Governance

ÖGB: EU-Paket ohne Vision

BEIGEWUM, Elisabeth Klatzer/Christa Schlager: Europäische Wirtschaftsregierung – ein stille neoliberale Revolution

ATTAC: EU-Wirtschaftsregierung: Fehler der 30er Jahre werden wiederholt

Sven Giegold, Europäische Grüne: Unzureichendes Ergebnis mit Licht und Schatten

Kommentar zu „„Europäische Wirtschaftsregierung“ beschlossen: More of the same … nur noch schlimmer“

  1. sonja traxler sagt:

    jo …
    und …
    wos moch ma jetzt???

    “ … beschäftigt sich mit Symptomen, ohne die wirklichen Ursachen der Krise anzugehen. Diese lagen und liegen immer noch in der Deregulierung der Finanzmärkte und verantwortungsloser Spekulation, die die Budgets in eine Schieflage gebracht haben – nicht in zu hohen öffentlichen Investitionen oder Löhnen.“

    .. des is ois scho so lang kloa und so zum speibn –
    sorry, oba wie soll ma do no normal drauf reagiern?

    s.

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