Sozialgipfel Reloaded, ein erster Bericht: „Sozialbereich ist die Speerspitze der Prekarisierung!“

Eines kann bereits jetzt festgehalten werden: von der TeilnehmerInnenzahl her ist der Sozialgipfel Reloaded bereits ein Erfolg. An die 150 BelegschaftsvertreterInnen, Beschäftigte, Betroffene und Interessierte aus dem Sozial-, Gesundheits-, elementaren Bildungs- und arbeitsmarktnahen Bereich fanden sich am 21. März in der AK-Wien ein, um gemeinsam über die Situation im Sozial- und Gesundheitsbereich zu diskutieren, sich zu vernetzen, über Widerstandsformen gegen Überlastung, Arbeitsdruck, unbezahlte Mehrarbeit und notorischer Unterfinanzierung zu beratschlagen.

Gleich zu Beginn hatten es einmal die inhaltlichen Inputs in sich. Geladen waren Nikolaus Dimmel, a.o. Prof. An der Universität Salzburg und Kati Ziemer, Betriebsrätin an der Charité, genauer gesagt bei CFM – Charité Facility Management Berlin, Streikerprobte verdi-Aktivistin.

„Klassenkampf im Altersheim?“

Gewohnt provokant war Dimmels Referat mit „Klassenkampf im Altenheim?“ übertitelt. Zuallererst räumte Dimmel einmal mit einigen Mythen Sozialer Arbeit bzw. Sozialer Dienste auf. Soziale Arbeit hätte einen Doppelcharakter, so Dimmel, sie sei sowohl ein Instrument sozialer Emanzipation als auch Instrument staatlicher Herrschaft: Aufgabe des Sozialbereichs sei es nämlich u.a. , Lohnarbeitskraft wiederherzustellen, die „KlientInnen“ arbeitsfit zu machen, um diese wieder dem kapitalistischen Produktionsprozess zuführen zu können. Soziale Arbeit sei auch frei von Romantik, sie ist genauso fremdbestimmt, lohnabhängig und entfremdet wie etwa Industriearbeit. Der Anspruch der „Gemeinnützigkeit“ in der Sozialwirtschaft findet auch dort rasch ein Ende, wo die Bilanz nicht stimmt.

Nicht zuletzt sei der Sozialbereich „Speerspitze der Prekarisierung“, so Dimmel. Es gebe einen strukturellen Zwang zur Verrichtung unbezahlter Arbeit, Arbeit werde permanent verdichtet, Einsatzzeiten verkürzt, Mobbing- und Burn-Out-Belastung seien überdurchschnittlich. Der Sozialbereich sei ein Niedriglohnsektor, klassisch für eine weiblich dominierte Branche, soziale Dienstleistungsarbeit werde zusehends atypisiert.

Die Reaktionen der Belegschaften auf diesen „Prekarisierungsprozess“ seien dabei ausgerechnet durch Individualisierung statt Organisierung – die Gewerkschaften sind im Sozialbereich traditionell schwach organisiert, durch Angst um den Arbeitsplatz – wobei auch das Drohpotential „Änderungskündigung“, also Wiedereinstellung zu schlechteren Bedingungen Wirkung zeigt und durch eine Kultur „informeller“ Konfliktaustragung gekennzeichnet.

Was also tun? Im Industriebereich ist klassischerweise der Streik, die Verweigerung von „Mehrwertproduktion“ das Kampfmittel schlechthin – von Betriebsversammlungen, Dienst nach Vorschrift, über Bummelstreiks eben bis hin zur Arbeitsniederlegung. Ziel ist, dass der Profit, also der Gewinn einbricht und die Wertschöpfung unterbrochen wird.

Nur: der Sozialbereich ist ein Non-Profit-Sektor. Wird hier gestreikt bricht kein Profit ein. Dennoch: auch hier würde Dienst nach Vorschrift wirken und das System akut gefährden. Es sei einfach für Belegschaften nicht länger ertragbar, dass sie zwar im Auftrag der öffentlichen Hand Aufgaben erfüllen würden, diese allerdings unter einer permanenten Unterfinanzierung leiden. Es könnte auch der „Standards“-Spieß umgedreht werden, tatsächlich „symbolisch-aufgeladene“ – von der Legislative tatsächlich nie ernst gemeinte weil unter gegebenen wirtschaftlichen wie personellen Bedingungen schlichtweg nicht erfüllbare – hohe gesetzliche Standards mit vorhandenen Mitteln eingehalten werden. Auch das würde das System an den Rande des Zusammenbruchs bringen. Die „sozialen Kosten“ von Nicht-Sozial-Arbeit (z.B. massive Einschränkung der Erwerbsmöglichkeit mit entsprechenden Einkommensverlusten im Falle von privater, im Haushalt stattfindender, unbezahlter Pflege- und Betreuungsarbeit) sollten kampagnisiert werden. Ebenso Möglicher Inhalt einer Kampagne: die Verweigerung, unbezahlt und „freiwillig“ Mehrarbeit zu verrichten, wie – mehr oder weniger offen – von Dienst- wie Fördergebern erwartet, schließlich haben Beschäftigte im Sozialbereich ja „sozial“ zu denken! Hier sollten die SozialarbeiterInnen „wie Kapitalisten denken“, so Dimmel, nachdem von ihnen ja unternehmerisches Denken abverlangt würde: „You pay peanuts, you get monkeys„.

Schließlich: Arbeitsverweigerung in unklaren Haftungssituationen.

Und hier bringt nun Dimmel auch die „Belastungs-“ bzw. „Überlastungsanzeige“ ins Spiel, eine schriftliche Information an die Pflegedienstleistungen im Gesundheitsbereich bzw. auch in anderen Bereichen sozialer Arbeit an die Vorgesetzten, den Arbeitgeber/ Dienstgeber/ Geschäftsführungen über Arbeitsbedingungen, die zu Schäden der anderen „Vertragspartei“ – also der PatientInnen, alten Menschen, zu betreuenden Personen etc. – führen können bzw. absehbar dazu führen.

Weiters berichtete Dimmel über erfolgreiche und kreative Arbeitskämpfe in Deutschland (etwa den „Scheißstreik“ 2009 in Berlin). Über einen weiteren Arbeitskampf im Sozialbereich referierte schließlich unser zweite Gastreferentin – Kati Ziemer.

Arbeitskampf an der Charitè

Die Charité ist die größte und modernste Klinik Europas. Davon merke frau/man allerdings keineswegs immer was, so Ziemer. Tatsächlich sei in den letzten Jahren – pikanterweise unter einer rot-dunkelroten Stadtregierung – privatisiert worden, was privatisiert werden konnte. Unter anderem die Charitè Facility Management GmbH, kurz CFM, ein Gemeinschaftsunternehmen der Charitè, sowie der auch österreichischen VAMED und der Firmen Dussmann und Hellmann. Von den rund 2.600 Beschäftigten kamen 725 von der Charitè, 1.885 waren „Neuanstellungen“. Und damit zwei Klassen von Beschäftigten: die ehemaligen Charitè Beschäftigten mit Tarifvertrag, die CFM-MitarbeiterInnen mit teilweise haarsträubenden Einzelverträgen – mit Arbeitszeiten von 20 bis 48 Wochenstunden, Urlaubsansprüchen von 22 bis 30 Tagen, mit Haftung für Schäden, mit Schmutzzulagen oder nicht, und Befristungen von 3 bis 6 Monaten, von 6 bis 12 Monaten, bis zu zwei Jahren. Vollzeitlöhne von Euro 955,- waren keine Seltenheit. Für Gewerkschaft wie Belegschaftsvertretung eine unhaltbare Situation, die schließlich zum Streik führte. Dieser zeitigte immerhin der Erfolg, dass nach 4 Streiktagen an der Charitè ein verhandlungswürdiges Angebot der Arbeitgeberseite vorlag, nach zwei Wochen Streik schließlich auch die CFM-Geschäftsführung eine Gesprächszusage machte. Verhandlungen brachten nur teilweise zufriedenstellende Ergebnisse, weitere Arbeitskämpfe stehen bevor. Ein Erfolg war jedenfalls zu verzeichnen. „Wir haben keine Angst!“, wie es auf der vorletzten Folie der Präsentation heißt.

Weiter in Workshops

Weitergearbeitet wurde in workshops – zu Themen wie Organisierung und Community Organizing, Kampagnen, Berufsethik und Entfremdung der sozialen Arbeit, Probleme pflegender Angehöriger und Betroffener, die Überlastung der BetriebsrätInnen im Sozialbereich, sowie Erfahrungen über konkrete Widerstandsformen wie die Überlastungsanzeige. Aus den workshops und wie mit den Ergebnissen weiter verfahren wird, wird in diesem BLOG und auf der Homepage der Vernetzung Soziales noch berichtet werden.

Apokalyptische Clowneseke als krönender Abschluss

Als Abschluss gab´s eine „Apokalyptische Clowneske“, welche unter der Regie von Dr.in Merith Streicher in einem eigenen Workshop unter dem symbolischen Motto „Bist Du des Wahnsinns knusprige Beute?!“ zu den Sozialgipfelinhalten – gemeinsam mit KünstlerInnen und TeilnehmerInnen erarbeitet wurde – mit dem feschen Spekulanten, der die KollegInnen aus den sozialen Bereichen mit immer neuen Auflagen, Gesetzen, Einsparungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen und Sparpaketen regelrecht „zumüllt“. Und einem „Clown“, der versucht diese „gerecht“ zu verteilen – bis am Ende alle überlastet zusammenbrechen und das System zum buchstäblichen „Stillstand“ kommt.

Hier ein paar Eindrücke – Video folgt:

Eines kann bereits jetzt versprochen werden:

Am 11. April werden wir in der Vernetzung Soziales weiter planen und Veranstaltungen zu einzelnen Themenbereichen aus den workshops vorbereiten bzw. organisieren (mehr dazu hier). Und wir werden auch unseren Beitrag zur Organisierung des Sozial-, Gesundheits- und Bildungsbereichs leisten – in den Gewerkschaften, als unabhängige, alternative GewerkschafterInnen.

Links:

Nikolaus Dimmel Präsentation: „Arbeitskampf im Altenheim?“
Kati Ziemer Präsentation: Arbeitskampf an der Charité CFM
Programm, Arbeitsgruppen, Aussendungen – alles rund um den „Sozialgipfel Reloaded“ auf der Homepage der Vernetzungsgruppe Soziales

Reader zum World Workshop Café – worum es in der workshops ging. Woran wir weiterarbeiten werden.

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