Sozialversicherungen: von falschen „Reformen“ und notwendigen Verbesserungen


Lukas Wurz, Sozialexperte, Blogger (reflektive.at) und Arbeiterkammerrat der AUGE/UG in Wien über grundsätzliche Problemstellungen in Sozialversicherungssystemen, den bestehenden Reformbedarf, mögliche Reformoptionen und warum die Regierungspläne in die falsche Richtung gehen.

Es gibt gute und schlechte soziale Sicherungssysteme. Gute zeichnen sich dadurch aus, dass sie mehrere Bedingungen erfüllen. Zu diesen zählen:

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  • Sie sind vor politischen Eingriffen geschützt.
  • Sie erfassen möglichst alle Menschen in einem Land.
  • Sie überwinden Schnittstellenproblematiken zwischen verschiedenen Systemteilen.
  • Sie erlauben eigenständige Verbesserung durch Weiterentwicklung.
  • Sie binden die Versicherten zentral in das Geschehen ein.
  • Sie sind finanziell abgesichert.

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Das österreichische Sozialsystem erfüllt überraschend viele dieser Bedingungen. Es ist weitgehend regierungsunabhängig und beitragsfinanziert und verfügt über ausgeprägte Schutzmechanismen, die Entwicklungen wie etwa in England oder Deutschland in der Vergangenheit verhinderten. Es erfasst nicht alle, aber die allermeisten in diesem Land lebenden Menschen (Krankenversicherung: 98,5 Prozent, Pensionsversicherung: 9 Prozent aller Menschen über 20 Jahre).  Es ist im europäischen Vergleich besonders gut abgesichert.

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Bestehender Reformbedarf …

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Und dennoch gibt es das optimale Sozialsystem noch nicht: Auch in Österreich gibt es vieles, das besser gemacht werden kann.

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  • Bei der Einbindung der Versicherten, die in Österreich ja rechtlich betrachtet die EigentümerInnen der Versicherungsträger sind, hinkt Österreich anderen Beispielen weit hinterher. Es gibt keine regelmäßige Informationen der EigentümerInnen, also der Versicherten. Und den meisten Menschen ist wahrscheinlich gar nicht bewusst, dass sie gegenüber der Sozialversicherung nicht als BittstellerInnen aufzutreten brauchen, sondern als EigentümerInnen.
  • Die Schnittstellen zwischen den verschiedenen Systemteilen, also etwa die „Zwischenräume“ zwischen Unfallversicherung, Pensionsversicherung, Krankenversicherung und AMS funktionieren überhaupt nicht. Es gibt keinen Ort und keine Institution, die Menschen eine Sicherheit darüber gibt, welcher Teil der SV für sie in einer bestimmten Situation zuständig ist.
  • Große Teile der Angebote der Sozialversicherung werden nicht als Rechtsansprüche geleistet, sondern quasi als freundliche Geschenke der Träger. Das ist unzumutbar. Und es ist schädlich: Rechtsansprüche erlauben eine Weiterentwicklung des Systems. Wenn Menschen ihre Rechte vor Gericht einklagen können, so ist das System innovativer. Und Innovation ist wichtig: Das Sozialsystem braucht ein Update angesichts immer kürzerer Beschäftigungsdauern pro Job, regelmäßiger Phasen der Arbeitslosigkeit für etwa mehr als eine Million Menschen in diesem Land, höherem Gesundheitsbewusstsein, immer deutlicher werdender Probleme mit Ausbildung und Qualifikation erwachsener Menschen. Und zu niedrigen Leistungen der Existenzsicherung von Arbeitslosengeld bis zur Pension (insbesondere von Frauen und ArbeiterInnen).

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… und Reformoptionen

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Es könnte also einen klaren Fahrplan für eine Weiterentwicklung des sozialen Sicherungssystems geben. Gibt es aber nicht: Es stehen einander grob drei Konzepte gegenüber.

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1. Das eingangs beschriebene, das auf Absicherung gut funktionierender Bestandteile abzielt und die offensichtlichen Fehler im System beheben will. Dazu zählt etwa,

 

  • Leistungsunterschiede in unterschiedlichen Träger und Bundesländern für die Versicherten einheitlich am höchsten Niveau zu gestalten. Oder eine bundesweites System der Erstentscheidung zu schaffen, wenn Menschen zwischen verschiedenen Trägern hin und her geschoben zu werden drohen.
  • Und dazu zählt die Umstellung aller Angebote der Träger auf Pflichtleistungen mit Rechtsansprüchen. Auf diesem Weg kann es sinnvoll sein, bestimmte Träger in andere zu integrieren. So gibt es etwa keinen einzigen sachlichen Grund, warum es eine eigene Krankenversicherung der Selbständigen, der BäuerInnen oder der BeamtInnen geben soll. Diese Leistungen können in den Gebietskrankenkassen genauso erbracht werden. Frei werdenden Mittel werden zur Verbesserungen der Leistungen der Versicherten eingesetzt.
  • Im Sinne einer Stärkung der Versichertenrechte sollten derartige Entscheidungen allerdings nicht über die Köpfe der Versicherten hinweg gefällt werden, sondern unter Einbindung derselben.

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2. Diesem Konzept der Sicherung und Weiterentwicklung diametral gegenüber steht das System, das  die Bundesregierung anstrebt:

  • Sie will stärker in die Sozialversicherung eingreifen können, die Krankenversicherung schwächen, die Unfallversicherung zu Gunsten sehr großer Unternehmen aufteilen und die Kosten anderen Trägern zuschanzen.
  • Und sie will bei dieser Zusammenlegung auch sicherstellen, dass die ÖVP auf Dauer die Kontrolle über die Sozialversicherung erlangt. Die rein organisatorisch und gesundheitspolitisch unsinnigen Sonderversicherungsträger wie die SVA der Gewerblichen Wirtschaft und die Beamtenversicherung sollen bestehen bleiben. Sie stehen nämlich unter ÖVP-Kontrolle.
  • Die Gebietskrankenkassen hingegen sollen zu einer einzigen Kasse zusammengelegt werden. Ökonomisch bringt das ganz genau gar nichts. Machtpolitisch bringt es der ÖVP aber schon etwas. Und schließlich will sie der Sozialversicherung den Geldhahn zudrehen können, indem sie die Beitragseinhebung in das politisch kontrollierbare Finanzamt verlagert. Frei werdende Mittel werden zur Senkung der Arbeitskosten von Unternehmen eingesetzt.

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3. Und dann gibt’s etwas dazwischen: Jene, die schon in den letzten Jahren weggesehen haben, wenn Probleme im System der sozialen Sicherheit aufgetreten sind, und zwar aus Angst, dass eine öffentliche Diskussion über das Sozialsystem zu den von der ÖVP und der FPÖ gewünschten Verschlechterungen für die Menschen führen. Dazu zählen leider Teile der SPÖ. Das „Nichtdarüberreden“ hat dazu geführt, dass die Fehler für immer mehr Menschen spürbar wurden und damit auch der Ärger größer wurde.

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Ärger, der letztlich autoritären Politikkonzepten der FPÖ und des türkisen Teils der ÖVP genutzt hat.

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Linktipp: Sozialversicherung: Alles Spielzeug für die ÖVP?, von Lukas Wurz auf reflektive.at

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Lukas Wurz war über viele Jahre Sozialreferent im grünen Parlamentsklub, ist Arbeiterkammerrat der AUGE/UG in Wien und Experte für Fragen sozialer Sicherheit und für Sozialvesicherungssysteme. Er ist Redakteur des Blogs reflektive.at – und verfasst Beiträge zu aktuellen sozial- und gesellschaftspolitischen Fragen.

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