Ungarn: Auf dem Weg in den „Gulaschfaschismus“?

Am 17. April 2012 waren auf Einladung der Wiener Grünen sowie des Austrian Social Forums ungarische Oppositionelle zu Gast, um über die politische Entwicklung in Ungarn zu berichten. Und die geht seit dem FIDESZ Wahlsieg auf direktem Wege nach Rechtssaußen.


Der Einladung gefolgt waren Gabor Scheiring, Abgeordneter und Parlamentssprecher der LMP im Ungarischen Parlament, Aron Tanos von der Jugendliga Solidaritas), Vera Zalka (Hungarian Social Forum) und Matyas Benyik (Vorsitzender ATTAC Hungary).

Die einleitenden Worte von Monika Vana, Gemeinderätin der Wiener Grünen und Hermann Dworczak, waren insbesondere dahingehend bemerkenswert, dass Monika Vana eine grüne EU-Initiative für ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Ungarn nach Artikel 7 des Lissabonvertrages (Verstoß gegen EU-Richtlinien) ankündigte und Hermann Dworczak diese Veranstaltung als Auftakt einer „aktiven Vernetzung“ der ungarischen Opposition mit progressiven Gruppierungen in Europa bezeichnet.

Zu erstem Punkt – dem Vetragsverletzungsverfahren – sei angemerkt, dass es ausgesprochen Ungarn war, das als erstes EU-Mitgliedsland am 17. Dezember 2007 den Vertrag von Lissabon parlamentarisch beschloss (325 JA-Stimmen, 5 NEIN, 14 Enthaltungen). Insofern ist es bemerkenswert, dass sich nach nun 4 Jahren, nachdem man sich offenbar nicht mehr daran erinnern will, was denn da abgestimmt wurde, sich nun dieser Vertrag gegen Ungarn zu wenden droht.

Ungarische Oppositionelle zu Gast in Wien (v.l.n.r.): Julian Schmid (Übersetzung), Aron Tanos, Georg Prack (Moderation), Gabor Scheiring, Vera Zalka, Matyas Benyik. Foto: Gerhard Jordan

Zur politischen Situation in Ungarn

Parlamentswahlen in Ungarn, 11. und 25. April 2010: die national-konservative FIDESZ gewinnt mit ihren Bündnispartnern von der KDMP 68,12 % der Stimmen und damit 263 von 386 Mandaten. Die bislang regierende sozialdemokratische MSZP muss schwerer Verluste hinnehmen, erreicht 15,28 % der Stimmen, 59 Sitze. Die rechtsextreme Jobbik liegt mit 12,18 % und 47 Sitzen knapp dahinter. Auch wenn erstmals mit der LMP auch einer links-alternativen, grün-orientierten Partei mit 7,44 % und 16 Mandaten – in dieser Höhe überraschend – der Parlamentseinzug gelingt: Ungarn ist massiv nach rechts gerückt, die demokratische, parlamentarische Opposition weitgehend marginalisiert. Viktor Orbans FIDESZ hat damit die notwendige 2-Drittel Mehrheit um alle Verfassungsänderungen durchzubringen, und er wird diese Mehrheit zu nutzen wissen.

Orbans Wahlsieg war nicht zuletzt einem rabiaten „Antisozialismus“ und der katastrophalen sozialen und ökonomischen Lage als Folge der ökonomischen Transformation geschuldet (siehe dazu später Input von Gabor Scheiring). Orban setzte – durchaus erfolgreich – auf die nationalistische, „patriotische“ Karte, gegen die „kosmopolitischen“ Sozialisten und ihre, in der MSZP-Ära groß gewordenen „Oligarchen“ – Technokraten des Globalisierungsprozesses, Manager internationaler, in Ungarn ansässiger Konzerne, Gewinner der Privatisierung, Profiteure des EU-Beitritts.

Vorgeworfen wurde den MSZP-Premiers Medgyessy und Gyurcsany seitens der FIDESZ dabei auch ihre Vergangenheit als kommunistische Funktionäre: Medgyessy war stellvertretender Finanzminister unter Kadar, Gyurcsany Sekretär der Jugendorganisation der Kommunistischen Partei Ungarns. Interessanterweise war allerdings auch ausgerechnte Viktor Orban in seiner Vergangenheit kommunistischer Spitzenfunktionär – nämlich Vorsitzender der kommunistischen Jugendorganisation KISZ. Als Mitbegründer der FIDESZ führte er die ursprünglich „jugendlich“-liberale Partei auf ihren heutigen, rechtskonservativen, nationalistischen Kurs. Seit 1993 ist Orban dabei Vorsitzender dieser Partei.

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Mit der absoluten Machtübernahme durch FIDESZ war Orban nun auch in der realen politischen Lage, sein national-konservatives Projekt durchzuziehen. Mit einem neuen Mediengesetz wurde die Medienfreiheit empfindlich und nachhaltig beschnitten, ArbeitnehmerInnenrechte wurden de facto abgeschafft, Arbeitslose zu Zwangsarbeit verpflichtet, Gewerkschaften hinsichtlich ihrer Handlungsmöglichkeiten entmachtet und entrechtet, die Unabhängigkeit der Gerichte und der Justiz eingeschränkt.

„Das“ nationale Projekt schlechthin war allerdings eine Verfassungsreform, ganz im Geiste des von FIDESZ beschworenen und mythologisch überzeichneten und verklärten „Ungarntums“: Der Passus „Republik“ wurde etwa aus dem Grundgesetz gestrichen, Ungarn heißt somit nur noch „Ungarn“ und nicht mehr „Republik Ungarn“, dazu passend die ungarische Krone in das Staatswappen eingefügt und zum „Symbol Ungarns“ und damit zum zentralen historischen Bezugspunkt, erklärt. Die Verbindung von Mann und Frau gilt künftig in Ungarn als einzige – in dieser Form ziemlich einzigartig – verfassungsmäßig verankerte, zulässige Form der Ehe.

Trotz (oder gerade wegen?) des autoritären und chauvinistischen Kurses kommt die Politik von FIDESZ dabei bei breiten Bevölkerungsschichten durchaus gut an, punktet Orban doch mit der „nationalistischen“ Karte – und „patriotische“ Appelle an das „Ungartum“ gewürzt mit der entsprechenden Dosis Rassismus, Antisemitismus und Chauvinismus verfehlen ihr Ziel nicht. Das „nationale Trauma“ Trianon, als Ungarn nach dem ersten Weltkrieg zwei Drittel seiner Fläche und ein Drittel seiner Bevölkerung verlor sitzt tief, der „Opfermythos“ bleibt weitgehend unhinterfragt und wird von den herrschenden politischen Eliten entsprechend gehegt und gepflegt.

Wer verpricht, „Ehre“ und „Stolz“ Ungarns wiederherstellen, kommt gut an und kann auf breite Unterstützung zählen. Kritik aus dem europäischen Ausland an seiner Politik wird von Orban als unzulässige Einmischung abgetan, FIDESZ inszeniert sich als jene politische Kraft, die Ungarn vor schädlichen Einflüssen von außen schützt. Das hat natürlich Auswirkungen auf die ungarische Gesellschaft: Rassismus und Antisemitismus sind inzwischen wieder salonfähig geworden, Hetze gegen Roma politischer und gesellschaftlicher Alltag.

Gewerkschaften, linke Traditionen und linke Politikzugänge sind bzw. haben sich auch selbst in der Vergangenheit diskreditiert, die „antisozialistische“ Propaganda hat ihre Wirkung nicht verfehlt. Demokratische Institutionen – wie eben eine Unabhängige Justiz bzw. unabhängige Medien, BürgerInnen- und Freiheitsrechte haben in einer Gesellschaft ohne demokratischen Hintergrund – nur wenig Unterstützung erwarten. So weit zum politischen Zustand im Allgemeinen. Nun zu den Einschätzung der geladenen Oppositionellen im Speziellen.

Gabor Scheiring, LMP: „Finaler Kollaps“

Gabor Scheiring Abgeordneter der LMP und Ökonom zieht eine vernichtende Bilanz über den wirtschaftlichen Transformationsprozess von der realsozialistischen Planwirtschaft zur Marktwirtschaft: Der Transformationsprozess habe schlichtweg in einer sozialen und ökonomischen Katastrophe gemündet, so Scheiring. Er untermauert diese Behauptung auch mit den entsprechenden volkswirtschaftlichen Kenndaten:

  • Das Preisniveau in Ungarn liege zwischen 80 und 110 % des EU-Durchschnitts, die Löhne lägen allerdings zur bei 22 % der EU-Einkommen – mit sinkender Tendenz.
  • Hinsichtlich der Produktivität liege Ungarn mit 75 % des EU-Durchschnitts zwar gar nicht so schlecht, die Produktivität internationaler Konzerne in Ungarn liege allerdings um das 3- bis 4-fache über dem ungarischer Unternehmungen, was ungarische Betriebe im Vergleich zu ihren internationalen Konkurrentennur wenig wettbewerbsfähig mache.
  • Das Bruttoinlandsprodukt beläuft sich auf 65 % des EU-Durchschnitts, zwar sei die Wirtschaft zwar gewachsen, allerdings habe es sich um „jobless growth“ – also Wachstum, das sich nicht in entsprechendem Beschäftigungswachstum niedergeschlagen habe – gehandelt.
  • Die Erwerbsquote in Ungarn ist mit 61,9 % (2010) katastrophal gering und liegt deutlich unter dem EU-Schnitt (EU-15: 74,6 %, EU-27: 73,3 %). Noch desaströser als im Ungarnschnitt stellt sich die Situation in Ostungarn dar, mit Erwerbsquoten knapp an 50 %!

Der Beitritt Ungarns zur Europäischen Union habe sich angesichts der Produktivitätsrückstands der ungarischen Ökonomie für die ungarische Bevölkerung als wirtschaftliches und soziales „Desaster“ dargestellt. Vom Transformationsprozess profitiert hätten die (alten) Eliten, die neuen MSZP-nahen „Oligarchen“, als Technokraten des Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses und Manager internationaler in Ungarn ansässiger Konzerne. Die „antisozialistische“ Kampagne der FIDESZ wurde entsprechend als Kampagne gegen die sozialistischen Globalisierungs- und Transformationsgewinner „auf Kosten Ungarns“ geführt, gegen die sozialistischen Oligarchen geführt, gegen die Bevorzugung „internationaler Investoren“ im Gegensatz zu ungarischen Betrieben und ungarischem Kapital.

Der von den Regierungen zuvor beschrittene Weg der ökonomischen Transformation von der realsozialistischen Planwirtschaft zur global integrierten Marktwirtschaft wird zwar auch unter dem herrschenden FIDESZ-Regime konsequent weiterbeschritten – allerdings unter Bevorzugung der nationalen, FIDESZ-nahen „Oligarchen“ und Eliten, unter besonderer Berücksichtigung der Interessen nationaler Kapitalfraktionen.

Vor diesem Hintergrund sind sowohl Maßnahmen im Bankenbereich (Bankensteuer, Zwangskonvertierung von Fremdwährungskrediten), die vor allem international agierende Bankenhäuser treffen, Sondersteuern für ausländische Konzerne bzw. Produkte (z.B. die ominöse „Fettsteuer“ von denen bspw. die ungarische Salami befreit ist) und die Einführung der Flat-Tax zu sehen – als auch der massive Abbau von ArbeitnehmerInnenrechte, sowie die Frontalattacke auf Arbeitslose, Gewerkschaften und NGO in Ungarn: Arbeit muss im Interesse der Wettbewerbsfähigkeit, der Produktivitätsentwicklung ungarischer Unternehmen und maximalen Verwertbarkeit so billig, entrechtet und flexibel einsetzbar wie möglich sein (siehe Beitrag in diesem BLOG „Autoritärer Kapitalismus – Modell Ungarn“).

Die Folgen dieser Wirtschafts- und Sozialpolitik sind allerdings katastrophal, wovon steigende Arbeitslosigkeit und wachsende Armut zeugen. Je katastrophaler die ökonomische Situation, desto stärker als Ablenkung vom allgemeinen Elend die nationale Mobilisierung, desto autoritärer der politische Kurs.

Regelrecht befeuert wird dieser weitere Ruck nach Rechts durch die offen rechtsextreme, rassistische und antisemitische Agitation der Partei Jobbik unter Gabor Vona, Gründer der paramilitaristischen, faschistischen, inzwischen verbotenen Ungarischen Garde. Die Jobbik positioniert sich als „antielitäre“ Oppositionspartei gegen FIDESZ um gleichzeitig gegen die ärmsten der Gesellschaft und die Arbeitslosen zu mobilisieren, so Scheiring.

Die LMP positioniere sich gegen FIDESZ wie Jobbik mit ihren Forderungen nach fairen Jobs, sowie nach einem grundlegend neuen ökonomischen Modell, orientiert an einem beschäftigungswirksamen, ökologisch und sozial verträglichen Wachstum, soziale und wirtschaftliche Plattformen, welche entsprechende Entwicklungen befördern, unterstützen und anstoßen würden. Internationale Investoren müssten in regionale Ökonomien eingebettet sein.

Kritik kommt seitens der LMP allerdings auch an den restriktiven EU-Vorgaben: der Fiskalpakt drohe die EU-Peripherie – also die südeuropäischen und MOEL-Mitgliedsstaaten – regelrecht zu ersticken und aller budgetärer Spielräume zu berauben. Was diese Regionen allerdings bräuchten sei ein Regime, das wirtschaftliche wie soziale Entwicklung fördere – was der Fiskalpakt allerdings katastrophalerweise verhindere.

Matyas Benyik: 4 Millionen Ungarn in Armut

Der Ökonom und ATTAC-Ungarn Vorsitzende Benyik setzte Seirings Beitrag fort: Der ökonomische Transformationsprozess habe zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten geführt und insbesondere die Roma-Minderheit besonders schwer getroffen. 7 bis 10 % der ungarischen Bevölkerung gehören den Roma an: 700.000 bis 1 Mio. Menschen. Roma waren die ersten, die vom Zusammenbruch des Sozialismus und der folgenden wirtschaftlichen Transformation, in aller Härte getroffen wurden. Sesshaft im ökonomischen ohnehin eher unterentwickelten Ostungarn, beschäftigt als ungelernte ArbeiterInnen in der Industrie, schnellte die Arbeitslosenrate im Zuge von Privatisierungs- und Rationalisierungsmaßnahmen, der Spezialisierung und der daraus resultierenden Nachfrage nach gut qualifizierten FacharbeiterInnen sowie der Schließung von unrentablen Fabriken, in die Höhe. Eine Reintegration in den Arbeitsmarkt sei nicht mehr erfolgt – nicht zuletzt weil der größte Teil der Roma an der besonders strukturschwachen slowakischen und serbischen Grenze leben, wo sie – nicht zuletzt als Folge veränderter Machtverhältnisse und der um sich greifenden ökonomischen Krise – regelmäßig Angriffsziele der faschistischen Ungarischen Garde wurden bzw. sind.

Armut ist allerdings bei weitem kein auf Roma begrenztes Phänomen – was nicht weiter verwundert bei dem bestehenden Verhältnis zwischen Preisen und Löhnen. Während die Regierung Orban die Armutsrate in Ungarn mit 11%, rund 1,2 Mio. Menschen beziffert – was nicht über dem EU-Durchschnitt liegt – gehen soziologische Untersuchungen in Ungarn von wesentlich höheren Armutsquoten aus: sie sprechen von knapp 40 % Armen – rund 4 Mio. Menschen. Mit Antritt der FIDESZ-Regierung ist dabei die ohnehin schon hohe Armutsrate unter sozialdemokratischen Regierungen (33 %) noch einmal deutlich gestiegen. Besonders dramatisch dabei: die wachsende Armut bei Kindern und PensionistInnen.

Vera Zalka: Gespaltenes Land

Die Donau-Theiss-Linie teilt das Land – nicht nur geografisch, sondern auch ökonomisch und sozial – in West- und Ostungarn so Zalka. Ostungarn ist dabei der weit rückständigere Teil und wurde im Zuge der ökonomischen Transformation wirtschaftlich wie sozial noch weiter abgehängt. Und wirtschaftliche Rückständigkeit bedeutet Arbeitslosigkeit und Armut, insbesondere Kinder- und Altersarmut, wobei die Dramatik kaum vorstellbar ist. Hier gibt es Dörfer mit bis zu 100 % Arbeitslosigkeit, so Zalka, regelrechte Ruinensiedlungen.

Die Politik habe nun zu entscheiden, welcher Gruppe aus immer knapper werdenden Mitteln Unterstützung zukommen sollte. Das führt zu unglaublichen Härten. Inzwischen zurückgekehrt: Hunger, so Vera Zalka, Unterernährung von Kindern (kürzlich hat in Ungarn ein „Hungermarsch“ von 50 Betroffen – begleitet von hunderten SympathisantInnen –  aus dem Nordosten Ungarns nach Budapest statt. Die Forderung: „Arbeit, Brot“. Ein Bericht dazu in der Budapester Zeitung).

Ist die Bevölkerung Ungarns schon desillusioniert und über weite Strecken ohne Hoffnung auf Besserung, gilt das für die Menschen des Ostens im Besonderen. „Sie glauben den Lügen nicht mehr,“ so Zalka, den Versprechungen nach der Wende, dass es allen „bald so gut gehen werde wie den Österreichern und den Deutschen.“

Heute ist der Osten Hochburg von Jobbik, deren rassistische und antisemitische Agitation hier auf fruchtbaren Boden fällt, während in Westungarn die Aversionen gegen das zunehmend verlendende Ostungarn steigen. Die Spaltung verläuft allerdings nicht nur zwischen Ost- und Westungarn – in Wirklichkeit ohnehin keine regionale sondern eine soziale und ökonomische Spaltung, sondern auch unter den Lohnabhängigen: die Zahl der MindestlohnbezieherInnen hat seit der Regierungsübernahme durch FIDESZ rasant zugenommen, die Einkommensunterschiede entsprechend ebenfalls. Und: die Generation der „Babyboomer“ der 50er Jahre geht demnächst in Pension. Nur, dass kein Geld da ist. Und so plant FIDESZ – wie auch in Rest-Europa diskutiert wird – einfach das Pensionsalter zu erhöhen, das Problem also aufzuschieben, stattdessen Altersarbeitslosigkeit in Kauf zu nehmen.

Die soziale und ökonomische Kluft in Ungarn ist bereits enorm, die Politik von FIDESZ hat diese bereits vergrößert und droht diese noch weiter zu verschärfen und das politische und gesellschaftliche Klima damit noch weiter zu radikalisieren.

Aron Tanos: Zivilgesellschaftlicher Widerstand beginnt sich zu formieren

Es gibt allerdings auch Widerstand gegen diese Entwicklungen – auch wenn die Zivilgesellschaft sich erst zu formieren beginnt und Orban mit seiner FIDESZ-Regierung trotz weit verbreiteter Unzufriedenheit noch fest im Sattel zu sitzen scheint. Aron Tanos (dt. „der Verdächtige“) Aktivist der Jugendorganisation „Solidaritas“ die heute in Ungarn bereits an die 6.000 AktivistInnen zählt, berichtet davon, dass einmal mehr mit „facebook“ die Organisation des Widerstandes begann. Ein nicht unwesentlicher Grund: „facebook“-Mobilisierung kostet nichts, denn die Zivilgesellschaft in Ungarn ist nicht nur organisatorisch, sondern auch finanziell schwach (Zitat von Tanos im Vorfeld: „Und wenn ich ’schwach‘ sage, entspricht das nicht eurer Vorstellung von ’schwach‘. Es ist viel schlimmer …“ – was Tanos übrigens auch über die ungarischen Gewerkschaften sagt).

Auf facebook entstand so die Gruppe „Milla“, „1.000.000 für Demokratie in Ungarn“, die u.a. die Proteste gegen das Mediengesetz organisierte. Aus „Milla“ entstand schließlich am 1. Oktober 2011 „Solidaritas“. Mit Ende April soll es an die Vernetzung der zarten, zivilgesellschaftlichen Pflänzchen, der fortschrittlichen Oppositionsparteien und der Gewerkschaften gehen – um an einem „demokratischen Round Table“ eine Allianz aller demokratischen Kräfte zu bilden. „Wir müssen agieren, wir haben keine Zeit über Unterschiede zu diskutieren,“ so Tanos weiter.

In einer zweiten Phase – mit den näherrückenden Wahlen – will „Solidaritas“ ExpertInnen zu Wort kommen lassen, die alternative Wege aus der ungarischen Krise beschreiben sollen. Durchaus möglich erscheint – wenn auch nicht unter Beteiligung von „Solidaritas“ – die Herausbildung einer neuen demokratischen Partei als glaubwürdige Wahlkonkurrenz zu FIDESZ (wobei die ExpertInnenfixierung nicht zuletzt vor dem Hintergrund technokratischer „Expertenregierungen“ in südeuropäischen Ländern, unproblematisch erscheint, Anm.).

Gefahr Jobbik: bei Jugend populär und rabiat antisemitisch

Die größte Gefahr geht dabei – weil sie massiv unter Jugendlichen wirbt und ihre paramilitärischen Vorfeldorganisationen starken jugendlichen Zulauf haben – von Jobbik auf. Die ungarische Jugend droht an die extreme Rechte verloren zu gehen, warnt Tanos, die demokratischen Kräfte müssten sich dringend was einfallen lassen.

Auch Tanos spricht den – gerade auch im Zuge der Wirtschaftskrise und des von FIDESZ promoteten neu erwachten ungarischen Nationalismus – dramatisch ansteigenden Antisemitismus an. Die Sündenbocksuche, wer für die tiefe ökonomische und gesellschaftliche Krise in Ungarn verantwortlich zeichne, hat längst begonnen, die extreme Rechte hat die „Schuldigen“ auch schon gefunden – es ist „das Ausland“, die Linken, die Roma, die Arbeitslosen und natürlich die Juden.

Jobbik kann dabei auf eine traurige, antisemitische Traditionen in Ungarn aufbauen (zur Erinnerung: während der Horthyzeit wurden1922 die ersten antisemitischen Rassengesetze Europas beschlossen), der Kampf gegen die Linke, gegen den „Sozialismus“ auch mit antisemitischen Parolen geführt. Mit dem ideologischen Hintergrund, linkes, fortschrittliches, liberales Gedankengut als „un-ungarisch“, als nicht dem „ungarischen Geiste“ entsprechend, „von außen den Ungarn aufgezwungen“ zu diffamieren. Der Jobbik-Vorsitzende kann ungestraft den Holocaust leugnen, auch im Parlament wird hemmungs- und weitgehend konsequenzenlos antisemitisch agitiert. Antisemitismus gewinnt bedrohlich an „Normalität“.

Ein Lichtblick: am 15. April 2012 demonstrierten über 10.000 Ungarn mit dem „Marsch des Lebens“ gegen Faschismus und Antisemitismus und gedachten der Opfer des Holocaust. Kardinal Erdö nannte dabei in einem Beitrag Antisemitismus als „unvereinbar mit dem Christentum“.
(Bericht von der Kundgebung im Pester Lloyd vom 16. April 2012)

Bildungskatastrophe

Der radikale Abschied vom sozialistischen Erbe – bis zur konsequenten Leugnung dieses Teils ungarischer Geschichte – macht sich nicht nur in der Verfassung bemerkbar, sondern auch in der Bildungspolitik. War zu sozialistischen Zeiten das Bildungssystem gratis und sozial einigermaßen durchlässig, ist heute ein Studium kaum mehr leistbar. Tanos nennt Zahlen: so gibt es heute um 72.000 weniger StudentInnen als noch vor einigen Jahren.

Mit Aktionismus versucht etwa das Bildungsnetzwerk „HaHa“ auf den Bildungsnotstand hinzuweisen. Die Folgen die ein derart repressives und ausgrenzendes Bildungssystem für die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung mit sich bringt ist jedenfalls absehbar.

Ausblick

Hinsichtlich der näheren ungarischen Zukunft überwiegt Pessimismus – allerdings mit einer geringen Portion Hoffnung.

„Die derzeitige Entwicklung ist derzeit nur schwer aufzuhalten, weil so gut wie kein demokratisches Bewusstsein herrscht,“ fürchtet etwa Scheiring. Ungarn brauche eine Demokratisierungsprozess, der sei allerdings langwierig, eine demokratische Opposition erst im entstehen, die Linke und fortschrittliche Ideen weitgehend desavouiert. Die „totale Desillusionierung“ breiter Bevölkerungsschichten und der Fall in eine tiefe Depression mit politischer Inaktivität tue ihr übriges dazu.

Auch strukturell sei ein kurzfristiger Wandel schwierig: das einmal mehr geänderte, komplizierte Wahlrecht ermöglicht schon Zwei-Drittel-Mehrheiten bei einem Stimmenanteil von 45 %. Eine neu, glaubwürdige Opposition müsse überhaupt erst regionale Organisationsstrukturen schaffen, um in einer Wahlauseinandersetzung gegen die etablierte Großpartei der Rechten – FIDESZ – bestehen.

Tatsächlich erwarten sich die Oppositionellen Ungarns einiges vom beginnenden zivilgesellschaftlichen Aufbruch. Und was sich letztlich schwer abschätzen lässt. Werden die Desillusionierten und Frustrierten an der nächsten Wahl teilnehmen oder einfach zu Hause bleiben? Werden sie mangels glaubwürdiger Alternative selbst noch einmal FIDESZ die Stimme geben? Gelingt es FIDESZ ihre treue AnhängerInnenschaft, deren Anzahl nicht zu unterschätzen ist, noch einmal mit der entsprechenden Dosis Patriotismus zu mobilisieren?

Ein gewisse Hoffnung setzen die Oppositionellen auf die EU. Da ist einmal das angestrebte Art. 7 Verfahren. Und: ein EU-Mitgliedsland Ungarn stehe unter permanenter Beobachtung und könne sich nicht alles leisten (wobei die aktuellen politischen und ökonomischen Entwicklungen innerhalb der EU auch im Zeichen der Entdemokratisierung und einer autoritären Wirtschaftspolitik stehen, Anm.).

Was den ungarischen Oppositionellen jedenfalls ein zentrales Anliegen ist: die Vernetzung und Kooperation mit demokratischen Gruppierungen, Parteien und zivilgesellschaftlichen Initiativen in den anderen EU-Staaten. Wir nehmen dieses Anliegen gerne auf.

Bericht von Thomas Zarka (KIV/UG) und Markus Koza (AUGE/UG)


Weiterführende Linksammlung zu Ungarn:

Blog von Gabor Scheiring (tlw. Ungarisch mit Verknüpfungen zu Facebook)

Aron Tanos Video (ungarisch)

Homepage der Solidaritas Jugendliga (tw. ungarisch) – Kontaktaufnahme unter KAPCSOLAT möglich (öffnet sich ein e-mailfenster wo man Namen, e-mail, Betreff und Text hineinschreiben kann). Etwas irritierend für eine gegen Nationalismus auftretende Organisation die Verwendung ungarischer Namen für slowakische Städte (so wird z.B. Dunajska Streda als Dunaszerdahely bezeichnet)

Matyas Benyik, Lebenslauf, Aktivitäten, Videos von Aktionen

Homepage von ATTAC Ungarn (deutsch, englisch, französisch, spanisch), Beitrag in der Zeitschrift NEWS, Armut in Ungarn von ATTAC Ungarn

LMP: LMP auf wikipedia, Homepage der LMP (ungarisch),  Zeitungsartikel Nepszabatsag (ungarisch)

Pester Lloyd (deutsch), regierungskritische Online Zeitung, die laufend berichtet und einen sehr guten Überblick über politische Entwicklungen und Diskussionen in Ungarn liefert

Austrian Social Forum

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