Richtungsweisender EGMR-Spruch in Sachen Meinungsfreiheit im Betrieb


Es gibt ein Recht auf freie Meinungsäußerung? Nicht überall. In den Betrieben wurde „Meinungsfreiheit“ nämlich bislang vielfach als mangelnde Loyalität, wirtschaftliche Schädigung, Arbeitsverweigerung, Störung der „betrieblichen Ordnung“ etc. ausgelegt. Wer nur allzu frei seine Meinung im Betrieb äußerte, war nur allzu schnell von Kündigung, wenn nicht Entlassung bedroht. Zumindest bislang. Denn ein geradezu sensationelles und richtungsweisende Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat nun eines klar gestellt – das Recht auf freie Meinungsäußerung gilt auch in der Arbeitswelt!

Der Hintergund, ein Fall in der BRD: Eine Altenpflegerin machte ihren Arbeitgeber auf schwerwiegende Missstände im Betrieb aufmerksam – von fehlerhaften Abrechnungen von Leistungen hin zu mangelder Pflege zu betreuender Personen. Der Arbeitgeber tat allerdings nichts, um diese Missstände zu beheben.

Die Altenpflegerin stellte daraufhin Strafanzeige gegen den Arbeitgeber. Der reagiert prompt mit Entlassung – also fristloser Kündigung wegen fehlender Loyalität. Die Pflegerin zog vor Gericht. In erster Instanz wurde ihr noch Recht gegeben, die Entlassung als unrechtmäßig erachtet, da es sich im Faller der Klägerin um freie Meinungsäusserung hadelte. Das Landesarbeitsgericht erachtete dagegen die Strafanzeige als Entlassungsgrund. Ebenso das Bundesarbeitsgericht. Das Bundesverfassungsgericht lehnte es ab, sich mit dieser Causa zu befassen.

Blieb der Weg zum EGMR – zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte. Und der entschied, dass die deutschen Gerichte mit ihren Urteilen gegen den Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention verstoßen haben, der da u.a. lautet:

Artikel 10
Freiheit der Meinungsäußerung

1) Jede Person hat das Recht auf freie Meinungsäußerung. Dieses Recht schließt die Meinungsfreiheit und die Freiheit ein, Informationen und Ideen ohne behördliche Eingriffe und ohne Rücksicht auf Staatsgrenzen zu empfangen und weiterzugeben. Dieser Artikel hindert die Staaten nicht, für Hörfunk-, Fernseh- oder Kinounternehmen eine Genehmigung vorzuschreiben.

(2) Die Ausübung dieser Freiheiten ist mit Pflichten und Verantwortung verbunden; sie kann daher Formvorschriften, Bedingungen, Einschränkungen oder Strafdrohungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig sind für die nationale Sicherheit, die territoriale Unversehrtheit oder die öffentliche Sicherheit, zur Aufrechterhaltung der Ordnung oder zur Verhütung von Straftaten, zum Schutz der Gesundheit oder der Moral, zum Schutz des guten Rufes oder der Rechte anderer, zur Verhinderung der Verbreitung vertraulicher Informationen oder zur Wahrung der Autorität und der Unparteilichkeit der Rechtsprechung.

Der EGMR musste dabei zwischen den Interessen der Klägerin auf Freiheit der Meinungsäußerung und den wirtschaftlichen Interessen des Arbeitgebers abwägen. Dabei kam er zur Auffassung,

„… dass in einer demokratischen Gesellschaft das öffentliche Interesse an Informationen über Mängel in der institutionellen Altenpflege in einem staatlichen Unternehmen so wichtig ist, dass es gegenüber dem Interesse dieses Unternehmens am Schutz seines Rufes und seiner Geschäftsinteressen überwiegt.“ (Burkhard Goßens auf www.anwalt24.de)

Der EGMR hat die BRD verurteilt, an die Klägerin Schadenersatz in Höhe von Euro 15.000 zu leisten.


So erfreulich und richtungsweisend das Urteil auch ist: es zeigt auch auf, dass dringender Handlungsbedarf gegeben ist:

  • Es braucht einen unmissverständlichen und umfassenden gesetzlichen Schutz von „Whistleblowern“ die Missstände, Rechtsverletzungen, Korruption, Gefahrenpotentiale für Mensch, Gesundheit und Umwelt an ihrem Arbeitsplatz oder in ihrer näheren Arbeitsumgebung an- und aufzeigen. Solange das Damoklesschwert der Entlassung, oder anderer Sanktionen über potentiellen Hinweisgebern von Missständen schwebt, werden sich nur besonders couragierte ArbeitnehmerInnen trauen, diese auch aufzuzeigen.
  • Und es braucht das klare Bekenntnis, dass das Recht auf freie Meinungsäusserung – ein Menschenrecht – auch im Betrieb gilt.

Zum Thema:
Presseaussendung des EGMR auf www.gossen.at

Kommentare zum Spruch :

Gewerkschaft verdi: Europäischer Gerichtshof schützt Meinungsfreiheit von Beschäftigten inklusive Downloadmöglichkeit der Presseaussendung des EGMR zum „Whistleblower“-Fall

Die Meinungsfreiheit des Arbeitnehmers auf wdgk

Dein Kommentar:

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.